: Die Akte Honecker
Ein Prozeß gegen den alten Staatschef der DDR wirft enorme juristische Probleme auf. Die Staatsanwaltschaft hat schon jetzt Schwierigkeiten, Honecker den Schießbefehl an der Mauer direkt nachzuweisen ■ VON JÜRGEN GOTTSCHLICH
Sicher, es gibt Situationen, in denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf der Grundlage eines übergeordneten Naturrechts angeklagt werden müssen. Ich stehe voll hinter den Nürnberger Prozessen — aber hier eine Analogie zu sehen, ist absurd.“ Nicolas Becker ist einer der drei Verteidiger Erich Honeckers. Für das Mitglied einer der renommiertesten Anwaltskanzleien Berlins gibt es im Fall des Staatsratsvorsitzenden der ehemaligen DDR keinen Grund, das geltende Recht zu verlassen und einen Sprung ins Naturrecht zu machen. Mit dieser Auffassung steht Becker nicht allein. Auch die Berliner Justizsenatorin Limbach warnt davor, eine Lex- Honecker zu schaffen und ist sich mit ihren Staatsanwälten einig, gegen das frühere Politbüro der SED nur anzuklagen, was nach früherem Recht der DDR und den Übergangsklauseln des Einigungsvertrages als strafbares Handeln geahndet wird.
Doch was aus dieser theoretischen Übereinstimmung folgt, ist höchst widersprüchlich. Trotz allen Beharrens auf den Prinzipien des Rechtsstaats soll die für die sogenannte Regierungskriminalität zuständige Staatsanwaltschaft im Ergebnis ihrer Ermittlungen gegen Honecker auch eine Anklage präsentieren, und das möglichst bald. Der politische Druck auf die Berliner Justiz wächst — in der Frage einer Überstellung des greisen Ex-Staatschefs aus der chilenischen Botschaft in Moskau zurück an die Spree wird immer häufiger nach der Anklage gefragt, aufgrund derer die Bundesrepublik Honecker eigentlich zurückhaben will. Dabei dürfte es den Staatsanwälten nicht leicht fallen, eine auch im Hauptverfahren erfolgversprechende Strategie zu präsentieren.
Der politische Druck auf die Berliner Justiz wächst
„Der Prozeß wird ein weites Feld für die Verteidigung“, prognostizierte jüngst Otto Schily auf einer Veranstaltung zur justitiellen Aufarbeitung der DDR-Geschichte. „Das Prinzip der individuellen Schuld im hiesigen Strafrecht ist eigentlich für eine Strafverfolgung gegen mögliche mittelbare Täter nicht gedacht“, beschreibt Honecker-Anwalt Becker die Probleme der Staatsanwaltschaft. „Deshalb war es auch soviel einfacher, Soldaten, die an Tötungshandlungen an der Mauer direkt beteiligt waren, anzuklagen und zu verurteilen.“ So war es der Staatsanwaltschaft der DDR nach der Wende auch erst gar nicht in den Sinn gekommen, gegen Honecker wegen der fast 200 Toten an der Mauer auch nur zu ermitteln. Zu selbstverständlich erschien dem damaligen Generalstaatsanwalt der DDR das staatliche Recht auf ein entsprechendes „Grenzregime“. Statt dessen verfielen sie auf die Idee des Hochverrats. Der ein viertel Jahr nach dem Fall der Mauer gegen Honecker ausgestellte Haftbefehl vom 29.Januar 1990 lautete auf Hochverrat, Vertrauensmißbrauch und Untreue zum Nachteil sozialistischen Eigentums. In der Entgegnung des Honecker-Anwalts Friedrich Wolff auf diese Vorwürfe ist echte Verwunderung zu erkennen.
Statt Millionen ein piefiges Sparbuch
„Es ist unverständlich“, schrieb Wolff, „daß die Staatsanwaltschaft der Auffassung sein kann, der Beschuldigte wollte eine solche Tat (Hochverrat) begehen. Der Tatbestand verlangt, daß der Täter die sozialistische Staats- oder Gesellschaftsordnung der DDR beseitigen wollte. Dies ist angesichts der Person und des Lebenslaufs des Beschuldigten schlechthin undenkbar.“
Tatsächlich könnte man wohl mit einiger Aussicht auf Erfolg die These vertreten, daß unter anderem Honeckers Politik den Sozialismus nachhaltig diskreditiert hat. Daß Honecker aber einen im Sinne des damaligen DDR-Strafrechts gewaltsamen Umsturz des Staates DDR geplant haben soll, zeigt, wie schlecht sich das Strafrecht zur Aburteilung politischer Fehlentscheidungen eignet. Der Vorwurf des Vertrauensmißbrauchs ist ein Relikt aus dem Strafrecht der DDR, mit dem gesellschaftliches Eigentum geschützt werden sollte. Für die Staatsanwaltschaft stellte dieser Vorwurf wohl so etwas wie eine Auffanglinie dar, falls es mit dem Hochverrat nicht klappen sollte. Wenn man Honecker schon nicht den gewaltsamen Umsturz des Staates nachweisen kann, so doch zumindest die Zerrüttung der sozialistischen Volkswirtschaft.
Am erfolgversprechendsten schien aber zunächst der Vorwurf der persönlichen Bereicherung. 75 Millionen West-Mark sollte Honecker sich aus dem Geld für Häftlingsfreikäufe beiseite geschafft haben — eine Summe, die sich schon bald in Luft auflöste. Zwar machten die verschiedenen Bundesregierungen im Laufe der Jahre für Häftlingsfreikäufe etliche Millonen locker, in aller Regel wurde jedoch in Naturalien gezahlt. Seit die Praxis des zwischenstaatlich sanktionierten Menschenhandels 1963, zwei Jahre nach dem Mauerbau, begann, wurde in Richtung DDR hauptsächlich mit Südfrüchten, Videorekordern oder VW-Golfs abgerechnet. Das millionenschwere Privatkonto fand sich nicht, statt dessen ein Sparkassenbuch mit 211.964,51 DDR-Mark.
Nachdem sich die erste Aufregung in der DDR gelegt hatte und die Leute auf Westreisen Gelegenheit hatten, die Dienstvillen hiesiger Regierungschefs in Augenschein zu nehmen, schrumpfte auch das Wandlitzer Ghetto zu dem, was es tatsächlich darstellte: eine spießige Reihenhaussiedlung unterhalb des Standards leitender Angestellter im Westen. Korruption im Stile der Ceausescus ließ sich dort nicht verkaufen. Auch das Jagdhaus in der Schorfheide, so teilte Honecker den damaligen Ermittlern mit, sei nicht sein Eigentum. Das Haus gehörte dem MfS, und er war lediglich einige Male dort zu Gast. Dennoch setzt auch die Staatsanwaltschaft des Berliner Kammergerichts nach wie vor auf die Anklagepunkte des Verdachts der Untreue und des Mißbrauchs von Privilegien. Vielleicht finden sich ja auf irgendeinem Schweizer Konto doch noch die Honecker-Millionen.
Honecker wurde zum Aktenzeichen 2Js26/90
Erst sechs Monate nach ihrem ersten Haftbefehl, der aus gesundheitlichen Gründen nicht vollstreckt worden war, wagte sich die DDR-Generalstaatsanwaltschaft an die juristische Aufarbeitung der Todesschüsse an der Mauer. Bereits auf westlichen Druck hin erweiterte Chefankläger Seidel im August 1990 den Haftbefehl um den Verdacht, Honecker habe sich der „Anstiftung zum mehrfachen Mord“ schuldig gemacht. Die Toten an der Mauer werden auch im Mittelpunkt des Verfahrens gegen Honecker stehen, das ihm nun die gesamtdeutsche Justiz zu machen gedenkt — sollte Honecker je wieder in Deutschland auftauchen. Unmittelbar nach Vollzug der deutschen Einheit ging die Zuständigkeit im Ermittlungsverfahren gegen Honecker auf die Staatsanwaltschaft am Kammergericht in Berlin über, die dann am 30.November 1990 den ersten gesamtdeutschen Haftbefehl gegen den Ex-Staatschef der DDR erließ. Unter dem Aktenzeichen 2Js26/90 wurde Honecker im ersten Anlauf vorgeworfen, „in vier Fällen vorsätzlich einen Menschen getötet zu haben, ohne Mörder zu sein“.
Zu den vier Fällen, die die Staatsanwaltschaft für „ausermittelt“ hält, gehören die Toten Geffroy und Bittner, deren Todesschützen bereits in den beiden ersten sogenannten Mauerschützenprozessen verurteilt wurden. Darüber hinaus hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen der früheren DDR-Militärstaatsanwaltschaft in den Fällen Silvio Proksch und Michael Schmidt übernommen. In beiden Fällen waren die Nachforschungen der Militärstaatsanwälte durch Angehörige ausgelöst worden, die endlich wissen wollten, wo ihre Kinder beziehungsweise Geschwister geblieben waren. „Können Sie uns jetzt sagen, auf welches Grab wir unsere Blumen legen sollen“, schrieb eine Frau, die seit Jahren nicht wußte, was aus ihrem Bruder geworden war, an die DDR- Staatsanwälte.
Zwei Schriftstücke sollen Honecker überführen
Als die sich dann in Bewegung setzten, mußten sie feststellen, daß die Stasi die Spuren des Mannes systematisch verwischt hatte. Es gab eine besondere Einsatzgruppe der Stasi, letztlich von General Schwanitz kontrolliert, die regelrecht für die Vertuschung der Todesschüsse an der Mauer zuständig war. Die Truppe schaltete sich auch im Fall Proksch ein. Ein hoher Stasi-Offizier verhängte eine Nachrichtensperre. Den Angehörigen wurde vorgegaukelt, Silvio Proksch sei in den Westen gelangt. Auch in anderen Fällen wurden Angehörige belogen und die Leichen zur Obduktion nach Bad Saarow gebracht, wo sie von Stasi-Ärzten untersucht wurden. Wo und in welchem Krematorium die Leichen letztlich verbrannt und dann bestattet wurden, konnte die Militärstaatsanwaltschaft oft nicht mehr ermitteln.
Auch in den Fällen, in denen die Angehörigen unterrichtet worden waren, kam es zu entwürdigenden Szenen. Eltern mußten zustimmen, daß ihre Kinder offiziell als Opfer eines Autounfalls ausgegeben wurden, da sie ansonsten als „kriminelles“ oder „asoziales Element“ denunziert worden wären. Doch bei aller Niedertracht, die dieses Kapitel DDR- Geschichte durchzieht — die Staatsanwaltschaft steht vor der Frage, welche unmittelbare Beteiligung daran Erich Honecker nachgewiesen werden kann.
Sollte die letzte großangelegte Untersuchung des PDS-Archivs, in dem die SED-Dokumente zum Teil aufbewahrt werden, nichts Neues gebracht haben, stützen sich die Ankläger gegen Honecker auf ganze zwei Schriftstücke. Das erste stammt aus der Zeit unmittelbar nach dem Mauerbau. Honecker hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß er den Bau der Mauer in Ulbrichts Auftrag organisierte — er ist im Gegenteil stolz darauf. Für Honecker blieb die Mauer bis zuletzt „antifaschistischer Schutzwall“ und ein Instrument der Stabilität in einer hochexplosiven Region. Auch Verteidiger Becker erinnert daran, daß der Bau der Mauer „wahrscheinlich“ drakonischere Maßnahmen der Roten Armee ersetzte, mithin ähnlich zu beurteilen ist wie seinerzeit der Militärputsch Jaruzelskis in Polen. So gesehen ist es aus der Sicht des Staates DDR geradezu selbstverständlich, daß an der Mauer geschossen wurde. Einen ersten Hinweis auf Honeckers Beteiligung fanden die Fahnder im Militärarchiv in Strausberg. In einer Lagebesprechung am 20.September 1961, also sechs Wochen nach Beginn des Mauerbaus, wies Honecker darauf hin, daß zum Schutz des Schutzwalls auch geschossen werden solle. Der später förmlich erlassene Schießbefehl stammte von Armeegeneral Hoffmann.
Das zweite Dokument datiert vom 3.Mai 1974. In seiner Unverblümtheit hinterläßt es beim Leser tatsächlich ein Frösteln. Da äußert sich Honecker zur Lage an der Staatsgrenze wie jemand, der bedenkenlos über Leichen geht. Er betont, überall müsse freies Schußfeld vorhanden sein, nach wie vor solle von der Schußwaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und die Genossen, die die Schußwaffe erfolgreich angewandt hätten, müßten belobigt werden. Das läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig — nur: Ist es auch für einen Strafprozeß relevant? Die Zitate stammen aus einer Anlage zu einem Protokoll des Nationalen Sicherheitsrates, dem Honecker damals bereits vorsaß. Das eigentliche Protokoll weist die Grenzfrage als eine unter vielen in der Sitzung aus — ein routinemäßiger Bericht des Verteidigungsministers. Die Anlage ist eine kursorische Zusammenfassung der Diskussion.
Eine Meinungsäußerung Honeckers, wie seine Anwälte sagen, die mit einem Befehl, dem Schießbefehl, gar nichts zu tun habe. Wie will die Staatsanwaltschaft beweisen, daß diese Meinungsäußerung aus dem Jahr 1974 einen Grenzsoldaten 1986 bewogen haben soll, die tödlichen Schüsse abzugeben? Der Soldat hat diese Honecker-Äußerung ja noch nicht einmal gekannt. Tatsächlich ist rätselhaft, wie der die Ermittlungen leitende Staatsanwalt Großmann sein bisheriges Fazit beweisen will. Großmann in einem Zwischenbericht: „Honeckers Verhalten stellt sich als täterschaftliches Tun — aktives Tun — zu den Taten der einzelnen schießenden Grenzsoldaten dar.“
Die vier Todesschüsse, die die Staatsanwaltschaft anklagen will, erfolgten alle nach der Verabschiedung des DDR-Grenzgesetzes am 1.Mai 1982. Formal fällt dies in die Verantwortung der Volkskammer, in der Honecker nur einer unter vielen war. Außerdem, so die Anwälte, war dieses Grenzgesetz kaum schlechter als viele andere, deren Staaten sich bester Reputation erfreuen. Auch nach bundesdeutschem Recht darf unter bestimmten Voraussetzungen an der Grenze geschossen werden. Als Notanker in der Argumentation verweist die Staatsanwaltschaft auf internationale Verträge, die die DDR unter der Regentschaft Erich Honeckers unterschrieben hat. Beispielsweise die KSZE-Charta von Helsinki 1975 oder die UNO-Menschenrechtscharta oder die UNO-Charta über die bürgerlichen und politischen Rechte, die explizit ein ungehindertes Verlassen des Landes garantiert. Doch diese schönen Formulierungen, so weisen Honeckers Rechtsvertreter nach, wurden nie innerstaatliches DDR- Recht. Das sei bedauerlich, doch wenn man sich an den Grundsatz halten wolle, daß nur nach damaligem Recht angeklagt werden dürfe, könne ihr Mandant auf dieser Grundlage nicht belangt werden.
„Ich tat, was ein Kommunist tun mußte“
Und was sagt Honecker selbst zu den Vorwürfen? In den wenigen Vernehmungen vor seiner Ausreise mit einer sowjetischen Militärmaschine hat er sich zum Komplex Mauer nicht mehr geäußert. Lediglich in einem Schreiben vom Dezember 1989 erinnerte er den damals zuständigen DDR-Generalstaatsanwalt Wendland daran, daß er schließlich eine Politik „der menschlichen Erleichterungen“ betrieben habe und für den Abbau der Selbstschußanlagen gesorgt habe. Im übrigen habe er getan, was ein Kommunist tun mußte. Das werde er auch weiterhin tun, denn: „Ich war Kommunist, bin Kommunist und werde Kommunist bleiben.“
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