PORTRAIT: Leo Kofler zum 85. Geburtstag
■ Der Marxist beackerte schon lange vor den 68ern die Themen, von denen heute wieder kaum eine/r etwas wissen will
Die Verfallszeit jener „Theorien“, die ihre Existenz der Bildung eines Worts mit dem Universalchip „Gesellschaft“ verdanken, hat einer der Vorbeter des publizistischen Chors jüngst demonstriert. R. Dahrendorf brauchte von der muffigen Vorstellung einer „Zivilgesellschaft“ ('Neue Zürcher Zeitung‘) zurück zur ebenso verschwommenen, aber weniger aufgedunsenen „Bürgergesellschaft“ ('Die Zeit‘) nicht ganz neun Monate. Auf den hinteren Bänken, wo sie sich um die Zeilen balgen, wird es noch etwas dauern, bis die neue Sprachregelung greift. Aber dann erfolgt der Kostüm- bzw. Begriffs-, Theorien- oder „Paradigmen“-Wechsel so sicher wie das Amen in der Kirche und notorisch nach der Logik, „was interessiert mich mein Schmarrn von gestern, wenn etwas Neues besser läuft.“
Leo Kofler, der am 26.4.1992 das biblische Alter von 85 Jahren erreicht, konnte derlei nie gefährden. Sein Denken, so oft es sich in den Wüsten der Abstraktion verlief, im argumentativen Gestrüpp verhedderte oder sich schlicht wiederholte, beruht auf einer solideren historischen Bildung, intellektueller Redlichkeit und kritischer Distanz zum Meinungsmarkt. Im Unterschied zur Gschaftlhuberei intellektueller Gebrauchtwagenhändler hat das umfangreiche wissenschaftlich- politische Werk Leo Koflers etwas mit dem gediegenen Drechseln ganz harten Holzes zu tun. Mit dem Drechslermeister Bebel teilt Leo Kofler die Fähigkeit, soziale, also geschichtlich und ökonomisch geformte Realitäten von den „nackten, sturen Tatsachen“, die den platten Positivismus beeindrucken, zu unterscheiden; er gewann damit jenen Horizont, vor dem der Unterschied zwischen Politik und „Realpolitik“ bzw. Affirmation des Bestehenden ins Blickfeld gelangen kann.
Zu Koflers wichtigsten Büchern, die so schnell nicht vergessen wird, wer sie gelesen hat, gehören seine frühen Abrechnungen mit dem Stalinismus (Das Wesen und die Rolle der stalinistischen Bürokratie, 1952) ebenso wie Geschichte und Dialektik (1955) und Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (1966). Alle diese Bücher entstanden lange vor der Studentenbewegung in einer Zeit, als außerhalb des kleinen Zirkels der Kritischen Theorie in Frankfurt (wo man Kofler sehr kühl behandelte) und der Marxologen in Tübingen die Marxsche Theorie in der Tiefkühltruhe lagerte.
Leicht hatte es Kofler nicht: am 26.4.1907 als österreichisch-ungarischer Staatsbürger in Chocimiers (heute Ukraine) geboren, floh die Familie im Kriegsjahr 1914 nach Wien. Nach Abschluß der Schulen und der Studien an der Handelsakademie in Wien wurde Kofler 1929 arbeitslos. Nach dem „Anschluß“ emigrierte er 1938 in die Schweiz, wo 1944 unter dem Pseudonym Stanislaw Warynski Die Wissenschaft von der Gesellschaft erschien: eine für diese Zeit einzigartige kritische Annäherung an die Marxsche Theorie.
Nach dem Krieg ging er voller Hoffnungen nach Halle/Saale, resignierte aber bald vor der halbstalinistischen Herrschaft im SED-Gewand und floh 1950 nach Westen. Hier erwartete ihn niemand, und eine „ordentliche“ akademische Karriere blieb dem offen als Marxist argumentierenden im Adenauerstaat des Kalten Krieges (und danach!) verwehrt. In sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Zirkeln, die sich das Selbstdenken noch nicht abgewöhnt hatten, in Gewerkschaftsschulen, Volkshochschulen und Heimvolkshochschulen trat Kofler von nun an unermüdlich als Referent auf und konnte sich damit finanziell mehr schlecht als recht über Wasser halten. Erst Ende der 60er Jahre erhielt Kofler eine Lehrstuhlvertretung an der Universität Bochum, wo er noch lange als Honorarprofessor wirkte. Sein politisches Credo formulierte er 1968 (Perspektiven des revolutionären Humanismus), und die Zeitäufe haben es keineswegs veralten lassen, auch wenn der Wind den Linken im Lande momentan arg ins Gesicht bläst: „Weder kann die Geschichte auf der Stufe der widerspruchsvollen bürgerlichen Freiheit stehen bleiben, noch kann die sozialistische Stufe der Freiheit sinnvoll gestaltet werden ohne die Rücksichtnahme auf das Bedürfnis der Individuen auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung... Deshalb kann Marx sagen, daß die sozialistische Gesellschaft die einzige ist, ,worin die originelle und freie Entwicklung der Individuen keine Phrase ist‘. Die originelle und freie Entwicklung kann aber in diesem Sinne keine andere sein als die Wiederherstellung der Identität des Menschen mit dem Eros, seine Wiederherstellung als ein ,spielendes‘ Wesen.“ Ludi Lodovico
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