Ernste Warnungen

■ Fünfte Werkschau des Kunsthauses »Tacheles«: Ateliers zur freien Besichtigung

Aufschwung Ost hieß die nunmehr fünfte Werkschau im Künstlerhaus an der Oranienburger Straße. So ironisch, wie er in dieser Umgebung klingt, ist der Titel jedoch nicht. Denn tatsächlich ist ein Aufschwung zu bemerken, wenn auch nicht ganz von der Art, wie ihn die Wendepolitiker hüben und drüben sich vorstellen. Die Ruine lebt aus eigener, manchmal ruinöser Kraft; sogar das Hamburger Hochglanz-Magazin 'art‘ hat es bemerkt und dem seit zwei Jahren besetzten Gemäuer eine Überschrift geschenkt. »Über Tacheles« werde da geredet, meinen die Hamburger Marktschreier mit Blick auf jene mutmaßlich innovative Szene, die ihnen an der Schwelle zum großen Geschäft zu stehen scheint.

Sie irren wie meistens und schweigen deshalb in ihrer neuesten Ausgabe, die ganz der neuen Hauptstadt gewidmet ist, über die Kunst, die im Tacheles tatsächlich entsteht — schmissige Überschrift hin oder her. Es ist eine Kunst, die dem Image zu entkommen versucht, das dem Prenzlauer Berg von außen aufgestülpt worden ist. Wer bloß die wilden Ossis sucht, wird ziemlich enttäuscht durch die drei Etagen und ein halbes Dutzend Ateliers stolpern, die von Donnerstag bis gestern abend dem Publikum offen standen.

Ja, doch, Wildes ist schon zu sehen — wilde Farben auf Tafelbildern, aber auch auf den Wänden, wilde Fratzen in symbolisch-expressiver Umgebung, obszöne Sexualität—, aber die Wende, das untergegangene Regime und die neuen Güter des Westens sind nur am Rande Thema. Die meisten der Künstler und Künstlerinnen, die im Tacheles arbeiten, schreien sich ganz privat aus, am liebsten in heftigen Eruptionen von Acrylfarben. Es geht ihnen um die Behauptung ihrer eigenen Existenz jenseits von Systemfragen. Kein Zufall deshalb, daß auch mal Edvard Munchs berühmter Schrei in groben Pinselstrichen zitiert wird. Wenn überhaupt etwas die Vielfalt der Malereien verbindet, dann der Existentialismus, also gerade kein Stil, sonderen eine (mehr oder weniger philosophische) Haltung.

Alles hat bislang noch nebeneinander Platz, kann verschmelzen wie eine Reihe von Gemeinschaftsbildern, die sich — nur auf den ersten Blick überraschend — kaum von den individuellen Erzeugnissen unterscheiden. Die Frage nach der Qualität ist in diesem Fällen nicht ganz fair. Mag sein, daß tausend Vorbilder des Expressionismus und Tachimus auf diesen Leinwänden und Pappen nachweisbar wären, doch auch diese Nachahmung ist nur Element einer anderen Geschichte: der Geschichte des Tacheles-Projekts, der Besetzung, des Arbeitens mit Schrott und Trümmern. »Ich habe immer in Ruinen gelebt«, sagt Silka Teichert, die am Prenzlauer Berg aufgewachsen ist, »diese Häuser haben eine Seele«. Deswegen solle das Künstlerhaus Ruine bleiben, auch wenn der Preis hoch ist.

Für die eigene Malerei bleibt wenig Zeit. Silka Teichert muß organisieren, Bier und Kaffee verkaufen, Geld bei Behörden auftreiben — »den ganzen Tag herumrennen«. Dasselbe wird von allen verlangt, die hier »wirklich etwas tun wollen«, wie sie sagt, die aus Erfahrung klug geworden ist. Denn das Tacheles leidet manchmal an seinem Renommee: Die Besetzung ist international, englisch ist zweite Verkehrssprache geworden, und zunehmend gilt es in aller Welt als ausgesprochen schick, hier ein Atelier zu beziehen.

Wer bereit ist, außerhalb der eigenen Kunst schlichte Bau- und Handwerkerarbeit zu leisten, zu putzen und zu klempnern, ist willkommen, sogar ein Gästeatelier steht zur Verfügung. Die meisten allerdings ziehen es nach einer Weile doch vor, ihren Bedarf nach Untergrund anderswo bequemer zu befriedigen. So blieb dem Projekt ein Kern von Überzeugten erhalten, und wenn das Haus alle halbe Jahre zur Werkschau einlädt, dann sind vor allem sie es, die sich vorstellen wollen. Man kann durch die Ateliers gehen und sollte nicht die Sensation suchen, sondern einen schwierigen, aber auch lustvollen Alltag zur Kenntnis nehmen.

Aus dem Humus, zu dem bekanntlich Mist gehört, wachsen inzwischen Dinge, die über diesen Anlaß und Rahmen hinaus etwas zu sagen haben. Dazu gehört ganz sicher Stefen Raks Installation Klangbaum: ein Atelier mit Ausblick, der sich schon vom Flur aus gesehen als vertrackte Perspektive anbietet. Ein magischer Kreis aus grobem Reisig steht im Halbdunkel vor dem hellen Rechteck des Eingangs, in der Verlängerung der Fluchtlinien gibt ein quadratisches Fenster den Blick auf ein Mobile frei, das fatal an die immer etwas zu schwungvoll geratenen, optimistischen Dekorationen an den Plattenbauten der DDR erinnert. Drei leuchtend lackierte Blätter — Eiche und Linde — kreisen im Wind, gehalten von einem Stück echten Baumstamms, das in einer mit Kieseln verniedlichten Betonplatte steckt: Die Urszene glückloser Gartenarchitekten in Miniatur. Die drehenden Blätter bringen ein Glockenspiel zum Klingen, doch das doppeltverglaste Fenster davor schluckt jeden Ton. Zu hören wäre nichts, hätte Rak nicht eine Abhöranlage installiert, die Geklingel samt Windrauschen und Vogelgezwitscher in den Raum überträgt: Elektronische Lauscher und Verstärker vermitteln den Zugang zur einer verlogenen Ikone schöner Natur, als hätten sich Stasi und Ikea miteinander verschworen.

Raks Witz ist so elegant wie treffend und darf auch als Hinweis auf eine möglicherweise tödliche Zukunft des Projekts verstanden werden: Ein schwedischer Konzern möchte die Immobilie in bester Zentrallage Berlins kaufen und weiß den Wert der Kunstruine durchaus zu schätzen: Das Tacheles soll nach diesen Plänen nicht etwa abgerissen, sondern in die Bebauung des Grundstücks integriert werden. Der Bestand wäre gesichert, Oranienburg- Village ein Markenzeichen, aber »die Seele wäre tot«, fürchtet Silka Teichert — vermutlich zu Recht.

Belehrt durch Raks Isolierfenster, lassen sich auf manchen der existentialistischen Farbexplosionen seiner Kollegen eine Art Zinken entdecken — kleine Warnungen und Botschaften, wie sie einst unter Landstreichern gebräuchlich waren: »Achtung, Prügel«, »Weitergehen« und dergleichen. Wer hier arbeitet, versteht sie vermutlich gut, diese Bilder sind eine nützliche Art von Kunst: keine programmatischen, aber sehr ernste Warnungen vor dem falschen Aufschwung Ost. Niklaus Hablützel