Streik im öffentlichen Dienst: Öffentliche Streikwelle rollt
■ Die Zustimmung war groß, die Basis gibt sich kämpferisch. Einiges deutet darauf hin, daß der Streik, der ab heute Deutschlands Großstädte ins Chaos stürzt, länger dauern wird
Öffentliche Streikwelle rollt Die Zustimmung war groß, die Basis gibt sich kämpferisch. Einiges deutet darauf hin, daß der Streik, der ab heute Deutschlands Großstädte ins Chaos stürzt, länger dauern wird.
Streikposten stehen am Samstag vor allen sieben Eingängen des Postamts am Hühnerposten, ganz in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs. Einträchtig kontrollieren die Mitglieder der Postgewerkschaft (DPG) und des Deutschen Postverbandes jeden, der das gelb-rote Backsteingebäude betreten will — nur die wenigen Beamten, die hier arbeiten, werden durchgelassen. Allein an der Farbe ihrer Streikschürzen läßt sich erkennen, wer wo organisiert ist; und dabei sind die weißen Schürzen der DPGler deutlich in der Mehrheit. Sie sind die ersten der Republik, und jeder, der hier seinen Streikdienst verrichtet, ist ein wenig stolz darauf.
Freitag Punkt 14 Uhr traten die 1.600 Beschäftigen des Hauptpostamts in den unbefristeten Ausstand. Minuten vorher hatte die Postgewerkschaft mitgeteilt, daß 95 Prozent ihrer Mitglieder für einen Arbeitskampf votiert haben. Die gelben Lkws können seitdem zwar noch in den riesigen Hof des Postamts einfahren, entladen aber werden sie nicht mehr. Nur Telegramme, Eilpost, Medikamenten- und Tiersendungen werden noch bearbeitet.
Der Ort für den Auftakt ist gut gewählt: In dem bestreikten Postamt kommen sämtliche Briefe für die Hamburger Innenstadt an. Die Folge: Bereits am Samstag herscht in den Briefkästen der meisten Hamburger gähnende Leere, nur in einigen Außenbezirken drehen die Postboten noch ihre Runden. Außerdem werden am Hühnerposten die Briefe der Hamburger sortiert und in alle Welt verschickt — zwei Millionen täglich. Allein durch diese erste Arbeitskampfmaßnahme bleiben pro Tag etwa vier Millionen Sendungen liegen. Durchs mitgebrachte Kofferradio erfahren die Streikposten, daß die Oberpostdirektion Beamte als Streikbrecher einsetzen will. Andreas Plake, der DPG-Arbeitskampfbevollmächtigte vor Ort, winkt ab: „Das ist nicht durchführbar, die sind für die Sortierdienste gar nicht ausgebildet.“ Außerdem ist die Zustimmung unter den beamteten Postlern riesig. Immer wieder schauen beamtete Kollegen am Hauptpostamt vorbei, um ihre Solidarität zu versichern: „Wenn wir als Streikbrecher eingesetzt werden sollen, lassen wir uns krankschreiben.“
Ausweitung der Streiks ab Mitte der Woche
Nachdem am Samstag schon verschiedene Theater bestreikt wurden, wird ab Montag früh in den Städten der Republik so gut wie nichts mehr gehen. ÖTV-Chefin Wulf-Mathies erklärte am Samstag: „Wir werden sehr schnell beweisen, daß ohne den öffentlichen Dienst nichts läuft.“ Flächendeckende Streikaktionen im Nahverkehr wurden angekündigt. Die Bezirksleitungen von Hamburg bis München teilten mit, daß Busse und Straßenbahnen in den Depots bleiben werden. Berlin dürfte heute vor dem Verkehrsinfarkt stehen: Hunderttausende Arbeitnehmer werden entweder zu spät oder gar nicht zur Arbeit gelangen, Pendler aus dem Ostteil der Stadt können zwar mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, kommen aber nur noch zu Fuß jenseits der ehemaligen Demarkationslinie weiter.
Nur in Nordrhein-Westfalen soll der öffentliche Nahverkehr zunächst noch ungestört weiterollen. Die Fährschiffe vom Hamburger Hafen bis hin zum Fährbetrieb zwischen Konstanz und Meersburg auf dem Bodensee werden laut Streikleitung ebenfalls bis auf weiteres bestreikt. Ab Mittwoch seien dann auch Müllabfuhr und Müllverbrennung in den Streik mit einbezogen. Wie die Streikleitungen weiter mitteilten, werden in nahezu allen größeren Städten auch die kommunalen und die Landesverwaltungen sowie die Bundesverwaltungen bestreikt. Die Sozialämter würden dann ebenso lahmgelegt werden, wie die Stadtwerke und Arbeitsämter.
In der Nacht zum Montag wird es zu ersten Streiks auch bei der Bundesbahn kommen. Mit Arbeitskämpfen muß nach Angaben der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) auch in Kindergärten, Schulen und Universitäten gerechnet werden. Um die Auswirkungen des Arbeitskampfes in Grenzen zu halten, sprachen sich Politiker der Bonner Regierungsparteien und der SPD am Wochenende dafür aus, Bundeswehrsoldaten einzusetzen. Marco Carini, Hamburg
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