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Trampen und Radeln auf Berlins Straßen

■ Tapfere Berliner kämpften sich gestern per Anhalter, zu Fuß und auf dem Fahrrad zu ihren Arbeitsplätzen durch/ Massenansturm an den Taxiständen

Berlin. Mit geschultertem Rucksack den Daumen schwingend; mit Aktenköfferchen auf dem eingerosteten Damenrad — so unkonventionell wie gestern sah man die BerlinerInnen schon lange nicht mehr durch die Stadt reisen. Auf Radwegen und Stellplätzen fehlten zu Amsterdamer Verhältnissen nur noch die Grachten. 20.000 Arbeitnehmer waren dem Streikaufruf der ÖTV gefolgt. Bei der BVG, die täglich sonst etwa 3,1 Millionen Fahrgäste befördert, legten rund 15.000 von 17.500 Beschäftigten ihre Arbeit nieder. Ab Mitternacht standen Busse, U- und S-Bahnen im Westteil still. Von den 7.800 Taxen, die sich durch den Berliner Verkehr quälten, war ein großer Teil bereits am Sonntag ausgebucht. An den Taxiständen in der City warteten zur Hauptverkehrszeit über 50 Leute auf einen lift.

Die Aufforderung von Verkehrsminister Herwig Haase, Fahrgemeinschaften zu bilden, verhallte offenbar weitgehend ungehört. Single für Single kämpfte sich durch die Stadt. Insbesondere auf Stadtautobahnen und Hauptstraßen verbrachten sie oft Stunden auf wenigen Kilometern. Allen Unkenrufen zum Trotz blieb der komplette Zusammenbruch auf Berlins Straßen jedoch aus. Nach dem Mauerfall sei das Chaos größer gewesen, teilte die Polizei mit. Ein großer Teil der Arbeitnehmer ist gestern pünktlich zur Arbeit erschienen. Auch an den meisten Schulen fand regulär Unterricht statt. Über die Hälfte der Schüler waren anwesend. Schüler, denen es wegen des Streiks nicht möglich war zu kommen, gelten als entschuldigt, teilte die Senatsschulverwaltung mit. Auch die Innenverwaltung zeigte sich solidarisch. Streikbedingte Parksünder konnten nach Herzenslust falsch parken, ohne einen Strafzettel zu kassieren.

Während der BVG-Streik um Mitternacht zu Ende ging, läuft zu Wasser in Berlin bis Mittwoch nichts. Alle fünf Schleusen im Westteil bleiben bis dahin geschlossen. Auch 500 Kollegen des Fernmeldeamtes 1 streiken. Auskunft und Weckdienst liegen brach. Postbankkunden müssen mit verspäteten Zahlungen rechnen. Bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte folgten rund 1.000 Mitarbeiter dem Aufruf der DAG. Rentenbescheide und Kuranträge bleiben vorerst liegen. In den Bezirksämtern wurden die Gartenbauabteilungen von rund 1.000 Beschäftigten bestreikt.

Mit den Worten »Monika, bleib hart«, begrüßten 700 Beschäftigte des BVG-Betriebshofes Usedomer Straße die ÖTV-Vorsitzende Monika Wulf-Mathies. Sie bestätigte die Forderung nach einer 9,5prozentigen Lohnerhöhung gegenüber den vom Schlichter vorgeschlagenen 5,4 Prozent mehr Lohn. Innensenator Dieter Heckelmann (CDU-nah) sowie die Fraktionschefs der Berliner CDU und SPD, Klaus Landowsky und Ditmar Staffelt, forderten gestern, die Tarifpartner sollten unverzüglich an den Verhandlungstisch zurückkehren. Die Berliner PDS sowie die AL solidarisierten sich mit den Streiks. Die Grüne Liga sowie der BUND nutzten das gestrige Verkehrschaos für die Forderung nach einem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs sowie von Fahrradwegen. Jeannette Goddar

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