BLUBBERNDE SICHERHEITSRHETORIK IM INFORMATIONSZENTRUM DES AKW BIBLIS

Ein Tag im Kraftwerkspark

Zu Zeiten der Anti-Atomkraftbewegung waren gelegentlich mahnende Wegweiser zu sehen: Tschernobyl zweitausendsoviel km, Obrigheim 75km, Phillipsburg 30km, Biblis 25km. Mein Wohnort Mannheim ist umzingelt von diesen Meilern. Wo es also so nahe lag, sollte man nicht mal...? Mit einem unwohligen Schauer? So ein Ding besichtigen?

Na ja: Den Reaktor bekommt man eh nicht zu sehen. Es fängt alles noch vor dem Zaun an, im Informationszentrum der Kraftwerksbetreiber RWE in Biblis. Sogar noch davor: Ein Windrädchen dreht sich, ein Meßinstrument zeigt, daß nicht sonderlich viel Strom dabei rauskommt. Die Solarzellenplatte versagt noch krasser: Es ist ein ziemlich trüber Tag. Das Kohlewägelchen daneben demonstriert uns die Steinzeit der Energieversorgung — das kann es auch nicht sein. Drinnen im Informationszentrum, klimatisiert und lichtdurchflutet, zeigen uns Liebesgaben verflossener Besuchergruppen: Die Senioren der Arbeiterwohlfahrt im Kreis Groß Gerau waren da und haben ein selbstgehäkeltes Wapperl hinterlassen, diese Marinekameradschaft und jener Schützenverein, diese Freiwillige Feuerwehr und jene Kegelrunde — alle waren sie da und hatten das Bedürfnis, dies zu dokumentieren. Da haben wir uns aber geschämt, weil wir nicht daran gedacht hatten, einen Zinnteller mit Gravur einzupacken: „Öko-Labor- Kurs der Abendakademie“. Peinlich!

Ein Öffentlichkeitsarbeiter (und gleichzeitig Betriebsrat) des Kraftwerks nimmt sich unser an, und nun passiert das, was auch hartgesottenen Atomgegnern imponieren dürfte. Blubbernde Sicherheitsrhetorik schäumt auf und hüllt alles unwiderstehlich ein. Es fallen Begriffe, die uns aus eigener Erfahrung wohlvertraut sind: „In den Kühlwasserkreisläufen ist destilliertes Wasser, wie in Ihrem Bügeleisen oder Ihrer Autobatterie.“ Staunend nehmen wir zur Kenntnis, daß ein AKW im Prinzip nichts anderes ist als eine Kombination von großem Tauchsieder und Wasserkessel. Beruhigt nehmen wir einen Schluck Cola („Greifen Sie zu: ist im Strompreis schon enthalten!“). Tacheles wird auch geredet. Beim Recht der dritten Welt auf Energie beispielsweise kennt der Mann aus Biblis kein Erbarmen: Wenn wir denen die Kohle wegkaufen würden, das wäre doch eine schreiende Ungerechtigkeit. Von den Schwefel- und CO2-Emissionen mal ganz zu schweigen. Und Solarenergie, in diesen oft reichlich sonnenbeschienenen Ländern? „Meine Damen und Herren, da muß ja Ali Achmed jeden Tag mit dem Staubwedel den Wüstensand wegwischen!“

Nun wissen wir aber, daß alle Ali Achmeds ziemliche Schlamper sind, Sonnenenergie also schon mal gar nicht in Frage kommt. Bleibt wirklich nur noch das Atomkraftwerk. Hat dieses mehrere Blöcke, so handelt es sich um einen Kraftwerkspark. Ist das nicht fein?

Mehr Feinheiten der Atomenergietechnik bringt uns ein Zeichentrickfilm bei. Elektronen, Protonen und Neutronen hat man sich wie kleine, lustig umherflatternde Vöglein vorzustellen, die auf der Suche nach einem Plätzchen sind, auf dem sie sich niederlassen, vereinigen und dadurch ungeheure Energie erzeugen können.

Na also, ist doch halb so schwer: Wir basteln uns ein AKW. Dazu nehmen wir 850 Arbeitsplätze, eine Hauptkühlmittelpumpe, eine sich selbst erhaltende Kettenreaktion, eine Turbinenschnellabschaltung, jede Menge Uranhexafluorid und yellow cake, einige Strahlenschutzerlaubnisse und vergessen auch die kalkulatorischen Zinsen nicht. Unsere Strahlenschutzfachmänner stecken wir in modische Strickjacken, weil seit Kohl &Gorbi auf der Krim alle Welt weiß: So sehen Männer aus, die für Sicherheit sorgen. Für den Zaun außen herum nehmen wir uns die ehemalige Staatsgrenze West der ehemaligen DDR zum Vorbild.

Damit die Bevölkerung nicht unnötig beunruhigt wird, denken wir auch an die nuklidspezifische Messung, beachten alle Regeln der Dosimetrie und lassen keinesfalls den dreifachen Nulleffekt aus den Augen. Werden wir gefragt, ob wir mit unseren Messungen nach Tschernobyl was gemerkt hätten, verweisen wir direkt auf die Zuständigkeit des Ministeriums sowie den Weide- Kuh-Milch-Pfad. Letzterer ist nicht der Holzweg der Atomindustrie, sondern ein weiterer Beweis für die unendliche Gefährlichkeit des Alltags. Ein Umzug von Hamburg nach München? Zack, 70 Millirem natürliche Strahlung pro Jahr mehr! Ein Skiurlaub im Gebirge? Zack, nochmal fünf Millirem! 20 Zigaretten rauchen Sie am Tag? Zackzackzack, Herrschaften: 800 Millirem, Sie laufen ja als kleines Kraftwerk herum! Wenn Sie dann noch bitte beachten würden, daß seit 1.1. 1986 die verbindliche Meßeinheit für Strahlenbelastung Sievert heißt, kämen wir in der Sache noch weiter voran. 1 Rem entspricht nämlich 0,01 Sievert, 70 Millirem sind also 0,7 Sievert, und um ein AKW herum werden Sie mit einem läppischen Millirem pro Jahr belastet, also 0,01 Milli-Sievert. Winzige Werte das, sagen Sie doch selbst. Milli Vanilli strahlen gefährlicher, Ehrenwort. Bernd Oehler