Das letzte Tagebuch des Sigmund Freud

Man kann“, beginnt in schöner Unumwundenheit 'The Independent‘ seine Darstellung des letzten Tagebuches von Sigmund Freud — das am 23. des Monats in England erschienen ist — „ein Tagebuch nicht nach seinen Eintragungen beurteilen, wenn der Tagebuchschreiber Sigmund Freud heißt. Das Faksimile des einzigen überlieferten Freud-Tagebuches, 1929 begonnen und über zehn Jahre bis zu seinem Tod geführt, sieht ungefähr so faszinierend aus wie die Wäscheliste seiner Frau Martha. Eine Eintragung von sieben Worten ist schon lang; an manchen Tagen war der Autor mit einem zufrieden. Freuds Chronik der Periode zwischen dem Börsencrash an der Wall Street und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges füllt ganze 20 Blätter.“ Dennoch nennt die Rezensentin Paula Weideger die Veröffentlichung „bewegend“: „Die Eintragungen geben ein Bild des privaten, des häuslichen Freud — eines Mannes, der seinen eigenen Geburtstag nicht feiern wollte, aber mit Liebe und Bedacht Geschenke aussuchte für die Personen, denen er nahe stand. Immer wieder versuchte Freud, mit dem Rauchen aufzuhören, immer wieder begann er damit...“

Herausgeber des kommentierten Tagebuchs ist Michael Molnar, Direktor des Freud-Museums in Hampstead: „'Wer speziell darauf fixiert ist, Freud als ein perfektes Modell humanen Verhaltens zu betrachten, wird vom Freud-Tagebuch möglicherweise schockiert sein', gab er zu bedenken. Er war es nicht. Ich war es, zu meinem Verdruß, manchmal schon. Es ist ein intimes Porträt — wie üblich in beiden Bedeutungen des Wortes, zum Guten wie Schlechten.“ Die Rezensentin hätte beispielsweise ein besseres, aufgeklärteres Verhältnis des Vaters Freud zu seinen sechs Kindern erwartet. Aber: „armer Oliver.“ Freuds zweitgeborener Sohn schien es seinem Vater kaum jemals recht machen zu können. Das Tagebuch gibt einen Eindruck der Flucht aus Wien 1938, bei der die Patientin, spätere Analytikerin und Freundin Freuds, Prinzessin Marie Bonaparte, wie auch Freuds jüngstgeborene Tochter Anna eine heldenhafte Rolle spielten. Freud war bereits schwer leidend, neben der Krebskrankheit auch an Herzattacken. „Um so bewegender ist die Eintragung des 10.Juni 1938 zu lesen: „Lun besucht. Dieser fragile alte Mann fuhr quer durch ganz London. um Lun zu besuchen, seinen Chow-Chow, der in Quarantäne gehalten wurde.“ Freuds letzte Eintragung ist vom 25.August 1939: „Kriegspanik...“ Am 3.September die Kriegserklärung, am 21.September gab Freuds Arzt Max Schur dem Patienten auf Wunsch eine Überdosis Morphium. Am Morgen des 23.Dezember war Freud tot. taz

The Diary of Sigmund Freud 1929-1939. Herausgegeben von Michael Molnar. The Hogarth Press, 35 englische Pfund.