: Ausnahmezustand in Westdeutschland
■ Streiks legen Nahverkehr lahm/ Fronten zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften bleiben verhärtet
Berlin (taz/ap/dpa) — Seit gestern herrscht Ausnahmezustand in Westdeutschland: In zahlreichen Städten brach der Nahverkehr zusammen, im Fernverkehr kam es zu erheblichen Verspätungen, viele Briefkästen blieben leer und manche Rathaustür verschlossen. Mehrere 10.000 Bedienstete bei Bahn, Post, Kommunalverwaltungen und Verkehrsunternehmen folgten gestern dem Streikaufruf der Gewerkschaften und überzogen den Westteil der Republik flächendeckend mit dem ersten Ausstand im öffentlichen Dienst seit 18 Jahren. „Vom Nordostseekanal bis München steht alles still“, lautete die Erfolgsmeldung aus der Stuttgarter ÖTV-Streikleitung. Nach Gewerkschaftsangaben legten allein rund 35.000 Beschäftigte bei Straßenbahnen, Busbetrieben und U-Bahnen die Arbeit nieder. Der Zugverkehr wurde vor allem im Raum Frankfurt, Hamburg und in Nordrhein-Westfalen massiv behindert. Bei der Post blieben rund 8.500 Beschäftigte der Arbeit fern und legten insbesondere Fernmeldeämter und den Briefverkehr lahm.
Die ÖTV-Vorsitzende Monika Wulf-Mathies bekräftigte gestern, der Ausstand werde fortgesetzt, bis die Arbeitgeber ein neues Angebot vorlegten. Die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst wollen mit dem Arbeitskampf nach dem Scheitern der Verhandlungen jetzt wieder Lohnerhöhungen von 9,5 Prozent durchsetzen. Die Arbeitgeber hatten vor einer Woche den Schlichterspruch von 5,4 Prozent mehr Lohn und Gehalt abgelehnt und lediglich 4,7 Prozent angeboten. Durch die Streiks, rechnete gestern der Bund der Steuerzahler vor, würde ein volkswirtschaftlicher Schaden in Milliardenhöhe entstehen.
Die teure Machtprobe zwischen Staat und Gewerkschaften scheint die beiden Tarifpartner wieder an den Verhandlungstisch zu treiben. Die Verhandlungsführerin der Länder, Heide Simonis (SPD), betonte, die Arbeitgeber seien jederzeit zur Wiederaufnahme der Tarifgespräche bereit. Eine neue Offerte stellte die Kieler Finanzministerin jedoch nicht in Aussicht, setzte sich aber erneut für eine stärkere Berücksichtigung der unteren Einkommensgruppen ein. Auch der Verhandlungsführer des Verbandes der Kommunalen Arbeitgeber (KAV), Duisburgs Oberstadtdirektor Richard Klein (SPD), zeigte sich gesprächsbereit, da die Streiks so schnell wie möglich beendet werden müßten. Voraussetzung sei, so Klein, jedoch ein entsprechendes „Signal“ der Gewerkschaften. Er sei sich mit Innenminister Rudolf Seiters (CDU) und Heide Simonis (SPD) einig, daß sowohl über Volumen als auch über Struktur eines neuen Tarifabschlusses geredet werden könne. Zahlreiche Politiker, darunter Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) und der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Rudolf Scharping (SPD), forderten ebenfalls eine neue Verhandlungsrunde.
Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) verteidigte indes weiter das letzte Arbeitgeberangebot. „Wir sehen uns außerstande, in der gesamtwirtschaftlichen Lage hier ein anderes Angebot zu machen“, erklärte Kohl gestern. Bei der Tarifgestaltung müßten auch im Interesse der neuen Bundesländer ein „vernünftiges Maß“ gefunden werden. Dies sei ein Akt „selbstverständlicher Solidarität“. Kohl betonte, wer jetzt auf die ursprüngliche Forderung von 9,5 Prozent zurückkomme, liege mit seinen Vorstellungen außerhalb dessen, was in der gesamten Weltwirtschaft und den westlichen Industrienationen gedacht werde. Erwin Single
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