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Eine diskrete Autobiographie

■ Günter de Bruyn: „Zwischenbilanz“

Günter de Bruyn gehört zu den seltenen Schriftstellern, die ihre Leser nur mit dem behelligen, was sie wirklich wissen. Er mutet ihnen keine Meinungen zu, drängt ihnen keine Urteile auf, nichts Angelesenes und nichts Undurchdachtes. Da er alle Effekte meidet, wirkt seine Prosa bisweilen blaß, auf den ersten Blick sogar unbeholfen wie die ersten Sätze seiner jetzt erschienenen Jugend-Autobiographie:

„Mit achtzig gedenke ich, Bilanz über mein Leben zu ziehen: die Zwischenbilanz, die ich mit sechzig beginne, soll eine Vorübung sein: ein Training im Ich-Sagen, im Auskunftgeben ohne Verhüllung durch Fiktion. Nachdem ich in Romanen und Erzählungen lange um mein Leben herumgeschrieben habe, versuche ich jetzt, es diskret darzustellen, unverschönt, unüberhöht, unmaskiert. Der berufsmäßige Lügner übt, die Wahrheit zu sagen. Er verspricht, was er sagt, ehrlich zu sagen: alles zu sagen, verspricht er, nicht.“

Kein packender Anfang. Als ich den Autor Ende Februar zum ersten Mal diese Einleitungssätze lesen hörte, war ich verwirrt. Fängt so große Literatur an? Was ist das für ein Autobiograph, der sich zuerst bei seinem Publikum für die Schwierigkeiten entschuldigt, über sich zu schreiben? Der behauptet, er habe bisher nur berufsmäßig gelogen (was ihm sowieso keiner abnimmt), und der sich eine intime Schweigezone reserviert?

Aber diese Einleitung ist charakteristisch für diesen Schriftsteller. Statt effektvoll zu sein, ist er lieber ehrlich. Er trifft mit dem Leser eine Verabredung, damit der weiß, woran er ist. Und er hält sie bis zur letzten Zeile ein.

Ähnlich verhält es sich mit dem Titel des Buches: Zwischenbilanz. Er ist nicht gerade einladend, dafür exakt. Denn obwohl das Buch im Aufbau dem klassischen Muster der Gattung folgt, also den Bildungsweg eines Menschen von der Geburt bis zum Eintritt ins Erwachsenenleben schildert, ist sein Anspruch viel bescheidener.

Zwischenbilanz ziehen: das heißt etwas anders, als erzählerisch souverän über seine Geschichte zu verfügen und den geheimen Sinn des eigenen Lebenswegs aufzuzeigen. Statt dessen beobachten wir einen altgewordenen Menschen bei dem Versuch, sich allererst einen Überblick zu verschaffen, das Gewesene zu erinnern und zuzuordnen. Der Akt der Aneignung der eigenen Lebensgeschichte ist dabei nur gelegentlich Gegenstand von Reflexionen; aber in der Schreibweise ist die Erinnerungsarbeit jederzeit spürbar. De Bruyns Prosa vergegenwärtigt nicht, was erzählt wird, sie bildet den Nachvollzug aus der Distanz ab.

Erzählt wird die Geschichte eines Einzelgängers, der bereits in seiner Kinderclique die Erfahrung macht, daß er zur Anpassung an die Verhaltensnormen von Kollektiven unfähig ist. Er ist sechs, als Hitler an die Macht kommt; bei Kriegsende ist er achtzehn. Damit gehört er einer Generation an, die wie kaum eine andere in der Phase der Selbstfindung staatlichem Anpassungsdruck ausgesetzt war. In der nationalsozialistischen, früh vom Krieg gezeichneten Alltagswelt waren die Spielräume, in denen sich eine abweichende Persönlichkeitsbildung vollziehen konnte, minimal. Auch de Bruyn muß in den nazistischen Schulunterricht, muß Hitlerjunge, Flakhelfer, zuletzt Wehrmachtsoldat werden. Nach 1945 erlebt er in der Sowjetzone, wie neuerlich ein autoritäres Herrschaftssystem installiert wird. Zwar leistet er auch da, wie in den Nazijahren, keinen offenen Widerstand. Aber er wahrt innerlich Distanz, paßt sich nur soviel an, wie zum Überleben notwendig ist. Zur Strafe wird er nach seiner Lehrerausbildung von Potsdam in ein havelländisches Dorf ohne Bahnanschluß abgeschoben.

Mangelnde Anpassungsfähigkeit und die Konflikte, in die er dadurch mit den Anhängern der gerade herrschenden Staatsdoktrin gerät, sind ein Lebensthema, das sich als roter Faden durch de Bruyns Biographie zieht. Es hat auch sein Schriftstellerleben zu DDR-Zeiten berührt, über das er in einem weiteren Band seiner Autobiographie Auskunft geben will. Daß diese Erinnerungen noch nicht vorliegen, ist bedauerlich. Denn die Art und Weise, wie de Bruyn das heikle Thema des moralischen Überlebens in der Nazizeit bewältigt, weckt hohe Erwartungen. Er löst die Epoche erzählerisch in eine Vielzahl von Einzelschicksalen auf. So entsteht ein Panorama menschlicher Verhaltensweisen im autoritären Staat, das die jetzige Unsinnigkeit pauschalisierender Urteile, wie sie jetzt mit Blick auf die DDR-Vergangenheit üblich geworden sind, bloßlegt. De Bruyn begegnet der verlogenen Scheinmoral, mit der die Überlebenden der Diktatur fertiggemacht werden, nicht moralisierend. Er zeigt nur ganz lebensnah, daß es vielerlei Möglichkeiten gibt, sich zu dem Anpassungszwang, den der autoritäre Staat ausübt, zu verhalten. Und er setzt den zahllosen kleinen Widerstandshandlungen ein Denkmal, mit denen Menschen im Alltag zumindest ihre Würde, ihren Freiheitsanspruch, ihre geistige Autonomie verteidigt haben.

Warum sie das tun, woher seine eigene Unfähigkeit zur Anpassung rührt, woher der zähe Lebenswille, der den Jungen physisch, geistig und seelisch überleben läßt — das bleibt letztendlich ein Rätsel. Der Autor arbeitet Lebensthemen und Epochenschwerpunkte heraus, aber er hält das Erinnerte von Erklärungen, Interpretationen, Urteilen frei. Er überläßt es den Lesern, seine Lebenslinien zu entziffern — psychologisch, soziologisch, metaphysisch, je nachdem. Bezeichnend für diese Erzählhaltung ist sein knapper Kommentar zur ersten Budellkastenliebe: „Warum es unter den vielen Mädchen, die es dort gab, gerade dieses und nur dieses war, beschäftigte den Vierjährigen lange, aber auch der Sechzigjährige weiß noch keine Antwort darauf: er hat nur gelernt, sich nicht mehr darüber zu wundern.“

Die Zwischenbilanz ist eine diskrete Autobiographie und ein ermutigendes Buch. Es besitzt eine hohe moralische Kraft, da der Autor klar Stellung bezieht, für eine Haltung des sanften Widerstands wirbt, ohne daraus eine moralische Doktrin abzuleiten. Moralische Urteile über andere Personen sucht man vergebens. Anstatt zu moralisieren, erforscht dieser Schriftsteller konkrete Lebenswelten nach dem Spielraum, in dem wir uns für oder gegen die Macht, für oder gegen humane Werte entscheiden können. Einen solchen Spielraum gibt es immer. Man muß ihn nur wahrnehmen können. Bei Günter de Bruyn geht der unverkennbare moralische Impuls ganz in der Anstrengung auf, solche Wahrnehmbarkeit herzustellen, seine Zeitbilder und seine Sprache von allem frei zu halten, was den nüchternen Blick auf die Realität trüben könnte. Michael Bienert

Günter de Bruyn: Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. S. Fischer Verlag, Ffm, 380 Seiten, geb., 39,80DM.

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