„IRA-Prozeß“ nach 18 Jahren aufgerollt

Nach fragwürdigen Sprengstofftests hatte Judith Ward ein Attentat auf einen Armeebus gestanden  ■ Aus London Ralf Sotscheck

„Wäre das britische Rechtssystem ein Mensch, hätte es längst mit Schimpf und Schande zurücktreten müssen.“ Zu dieser ernüchternden Feststellung kam Conor Gearty, Jura-Dozent am Londoner King's College, nachdem erneut ein Urteil in einem IRA-Prozeß der siebziger Jahre ins Wanken geraten ist. Der ehemalige Innenminister Kenneth Baker, der bei der Kabinettsumbildung vor knapp drei Wochen auf die Hinterbänke verbannt wurde, verwies den Fall der Judith Ward im Oktober vergangenen Jahres zurück an die Gerichte. Das Revisionsverfahren beginnt heute vor dem Old Bailey.

Längste Haft wg. Nordirland

Judith Ward sitzt seit 18 Jahren in britischer Haft — länger als jede andere Person, die in Verbindung mit dem nordirischen Konflikt verurteilt wurde. Der Anschlag, der ihr angelastet wird, fand am 4. Februar 1974 statt: Ein Reisebus, der britische Soldaten und ihre Familien von Manchester in eine Kaserne in Yorkshire bringen sollte, wurde durch eine Bombe auf der Autobahn M62 kurz vor Leeds in Stücke gerissen. Zwölf Menschen kamen ums Leben, darunter zwei Kinder. Zehn Tage später verhaftete die Polizei die damals 25jährige Judith Ward in Liverpool. Die Beamten fanden — eingenäht in das Futter ihres Mantels — ein Notizbuch, das Namen und Telefonnummern von Mitgliedern Sinn Feins, des politischen Flügels der IRA, enthielt. Daraufhin ordneten sie einen forensischen Test an. Der Wissenschaftler Frank Skuse wies mit Hilfe des von ihm entwickelten „Greiss- Tests“ Sprengstoffspuren an den Händen Judith Wards nach. Der Test, der damals schon als unzuverlässig galt, ist spätestens seit der Berufungsverhandlung gegen die Birmingham Six im Jahr 1988 völlig diskreditiert. Bei der Verhandlung gegen sechs irische Arbeitsemigranten, die 1974 für Bombenanschläge auf zwei Kneipen verurteilt worden waren und fast 17 Jahre unschuldig hinter Gittern verbrachten, stellte sich nämlich heraus, daß der „Greiss-Test“ nicht nur auf Sprengstoff, sondern auch auf Spielkarten, Tabak, Resopalplatten und Haushaltsgegenstände positiv reagiert. Bei einem positiven Ergebnis sei ein weiterer Test nach dem zuverlässigeren Gaschromatographie-Verfahren notwendig. Der war bei Judith Ward jedoch negativ ausgefallen.

Judith Ward war erst spät mit irischer Politik in Berührung gekommen. Sie wurde 1949 im englischen Stockport geboren. 1966 ging sie nach Irland. Im Januar 1971 trat sie der britischen Armee bei, desertierte jedoch schon neun Monate später und kehrte auf das Gestüt in Irland zurück. Der Konflikt im Norden der Insel war inzwischen eskaliert: Internierungen ohne Anklage waren an der Tagesordnung, und Menschen flohen über die Grenze, um der Verhaftung zu entgehen. Damals begann Judith Ward, sich für nordirische Politik zu interessieren. Bereits im September 1973 wurde sie nach einem IRA-Anschlag auf den Londoner Bahnhof Euston zum ersten Mal verhaftet. Obwohl auch damals Sprengstoffspuren an ihren Händen nachgewiesen wurden, ließ man sie laufen: Judith Ward hatte sich seit ihrer Rückkehr nach Irland einen Namen als notorische Lügnerin gemacht und sich wiederholt der IRA-Mitgliedschaft sowie der Teilnahme an bewaffneten Aktionen bezichtigt. Die Beamten hatten das nie ernst genommen. Das änderte sich jedoch 1974 nach dem Attentat auf den Armeebus. Nach einem zweitägigen Verhör gestand Judith Ward, daß sie die Bombe von Brendan Magill, einem führenden Sinn-Fein-Mitglied, in London erhalten, mit der Eisenbahn nach Manchester transportiert und sie dann im Kofferraum des Armeebusses deponiert hätte. Der Fall schien gelöst: Die meistgesuchte Person Großbritanniens war gefaßt. Doch kaum war das Geständnis unterschrieben, erwies es sich als falsch: Bei der Durchsuchung der Wohnung ihres Bruders fand die Polizei Beweise dafür, daß sich Judith Ward zur Tatzeit 150 Kilometer von Manchester entfernt aufgehalten hatte. Darüber hinaus konnte Magill nachweisen, daß er gar nicht in Großbritannien war, als er Judith Ward angeblich die Bombe übergeben hatte.

Labile Außenseiterin

Doch die Polizei, die „das IRA-Monster“ bereits der Öffentlichkeit präsentiert hatte, ließ nicht mehr locker. Die Beamten aus West-Yorkshire verhörten sie sieben Wochen lang. Das Ergebnis war verblüffend— Judith Ward gestand alles, was man ihr vorhielt. Ihr wurden die Anschläge auf den Soldatenbus, den Euston- Bahnhof und ein militärisches Zentrum in Latimer zur Last gelegt. Da den Geschworenen wichtige Zeugenaussagen und entlastende Indizien vorenthalten wurden, sprachen sie Judith Ward in allen Anklagepunkten schuldig. Das Urteil lautete zwölfmal lebenslänglich plus dreißig Jahre. Sie legte keine Berufung ein.

Heute sagt Judith Ward, sie sei Anfang der siebziger Jahre sehr labil gewesen und habe sich als Engländerin in Irland immer als Außenseiterin gefühlt. Um akzeptiert zu werden, habe sie ihre IRA-Verbindungen erfunden: „Nach all den Verhören hätte ich ohnehin alles gesagt, was sie hören wollten.“

Auf die Berufungsklage hatte sie verzichtet, weil sie ihren Fall für hoffnungslos hielt: „Andere Gefangene, die für IRA-Anschläge verurteilt worden waren, wie die Birmingham Six, Guildford Four und Maguire Seven, erreichten doch auch nichts, obwohl sie offensichtlich unschuldig waren.“ Darüber hinaus, so sagt Judith Ward, brauchte sie ihre ganze Kraft, um den harten Alltag im Durham-Gefängnis zu überstehen. Erst als Judith Ward 1988 in ein humaneres Gefängnis verlegt wurde, nahm sie den Kampf gegen das Fehlurteil auf.

Dem irischen Rechtsanwalt und Journalisten Michael Farrell ist es im vergangenen Jahr gelungen, mit den wahren Tätern Kontakt aufzunehmen. Eine Frau, die nach eigenen Angaben die Bombe in Manchester im Armeebus deponiert hatte, sagte zu Farrell, daß die IRA-Einheit beide Busse bereits seit einigen Wochen vor dem Anschlag beobachtet hätte. „Das war ein wichtiges Detail“, sagt Farrell. „Es war nämlich keineswegs allgemein bekannt, daß es zwei Busse gab, die damals von Manchester in die Kaserne in West-Yorkshire unterwegs waren. Nur jemand, der die Gerichtsakten genau studiert hatte, konnte das wissen — oder jemand, der beim Anschlag dabeiwar.“

Ein Freispruch — sollte er denn erfolgen — nützt Judith Ward freilich nur noch wenig. 1994 würde ihre Entlassung wegen guter Führung ohnehin anstehen. Darüber hinaus ist weder damit zu rechnen, daß der Fall die überfällige britische Justizreform auslösen wird, noch daß die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.