: Demokratieprozeß im Osten beschleunigen
■ Die deutsche Gesellschaft dient vielen Menschen gerade in Südosteuropa als Folie für eigene Projektionen: Deutsche Einmischung in innere Angelegenheiten ist erwünscht
Die Erwartungen, die im ehemaligen kommunistischen Herrschaftsbereich an Deutschland formuliert werden, wirken manchmal (befremdlich genug) hochgespannt. Die deutsche Gesellschaft dient vielen Menschen in Ostmittel-, Süd- und Osteuropa weiterhin als eine Folie für eigene Projektionen: für die Wünsche nach Wohlstand und sozialer Sicherheit, für Liberalität, Stabilität und Kultur. Nicht nur die ökonomische Effizienz der deutschen Gesellschaft wird dort wahrgenommen. Auch gesellschaftliche Bewegungen wie zum Beispiel die der Frauen und die der Ökologen sorgen für ein positives Deutschlandbild, das die Erfahrungen mit den Schrecken der Vergangenheit zunehmend überlagert hat. Angesichts der gesellschaftlichen Eruptionen, die den Prozeß der Auflösung des kommunistischen Wirtschaftssystems begleiten, ist ein politisches Vakuum entstanden, das sich nicht nur durch die „Werte“ der eigenen Vergangenheit, sprich den Nationalismus, füllen läßt und den daraus entspringenden Konstellationen. Immer noch gibt es in allen Gesellschaften dieser Hemisphäre die Hoffnung auf Europa. Und Deutschland spielt in diesem Zusammenhang — auch wegen der Erwartungshaltungen — eine große Rolle.
Die politische Rolle zu definieren, ist Aufgabe der staatlichen Außenpolitik. Die Konturen der deutschen (Ost-)Politik nach der deutschen Einigung sind nur schwer zu fassen. Entscheidungen wie die der diplomatischen Anerkennung Kroatiens und Sloweniens mögen zwar demonstrieren, daß Genscher trotz Widerständen aus den Reihen der westlichen Verbündeten zur eigenständigen Handlung fähig war. Mehr aber auch nicht. Denn die Anerkennung der beiden Balkanstaaten war nicht Resultat einer umfassenden politischen Strategie, sondern entsprach lediglich dem pragmatischen Versuch, besänftigend auf den Balkan-Krieg einzuwirken. Die Art und Weise, wie der Nachbarschaftsvertrag mit der CSFR abgeschlossen wurde, hat auf beiden Seiten Chimären der Vergangenheit wachgerufen. Und die Irritationen in bezug auf das deutsch-polnische Verhältnis sind immer noch nicht abgeklungen. Diese Handwerkelei jedoch entspricht keineswegs den objektiven Notwendigkeiten und Chancen, die sich für die deutsche Außenpolitik nun bieten. So ist die neue Rolle Deutschlands keineswegs zu definieren — es sei denn zu dem Preis, daß man auf altbekannten Schienen weiterrollt. Das allerdings wäre die schlimmste aller Alternativen. Angesichts der sich immer wildwüchsiger gebarenden Außenwirtschaftspolitik in Osteuropa wächst nicht nur in Serbien der (noch ungerechtfertigte) Vorwurf, die Deutschen wollten zu einer Politik der Einflußsphären zurückkehren.
Wer den drohenden Zerfall der Gesellschaften des Ostens und ihre ideologische Krise, die sich materiell in Krisen und Kriegen niederzuschlagen beginnt, ernsthaft aufhalten will, muß für sie eine Perspektive bieten können. Es geht nicht nur darum, einzelnen Ländern wie Polen, der CSFR und Ungarn die Möglichkeiten für die Integration in das Europa der Zwölf zu eröffnen. Eine der Eckpfeiler einer neuen deutschen Ostpolitik könnte in der gemeinsamen westeuropäischen Anstrengung liegen, über abgestufte und langfristige Formen der Integration berechenbare ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungen einzuleiten. Damit würden auch jene Kräfte in den Gesellschaften des Ostens gestärkt, die auf friedlichen Interessenausgleich setzen. Mit dieser Perspektive macht die Demokratisierung überhaupt erst einen Sinn. Aufhorchen lassen sollte, daß nicht nur die rumänischen Rechtsradikalen heute schon die Abkehr von Europa fordern, weil die europäische Option ihr Streben nach Macht gefährdet.
Viele demokratische Intellektuelle des Ostens fordern gerade von Deutschland, die obsolet gewordene Formel der „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“ ihrer Länder zu ignorieren und mitzuhelfen, durch die Einmischung von außen demokratische Prozesse zu beschleunigen. Minderheitenrechte und Bürgerrechte sind erneut in Gefahr geraten. Es wird eine wichtige Aufgabe bleiben, die deutsche und europäische Außenpolitik in diesem Sinne zu beeinflussen. Dazu gehört auch, im Rahmen des KSZE-Mechanismus supranationale Institutionen zu schaffen oder auszubauen (wie internationale Gerichtshöfe etc.), die in der Lage sind, Menschenrechtsverletzungen auch zu sanktionieren. Außenpolitik kann heute nämlich nicht nur eine politische, sondern auch eine gesellschaftliche Funktion haben. Erich Rathfelder
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