Stolpe klagte über „zu kurze Arme“

Noch während der Wende verhandelte die Kirche über ihren mäßigenden Einfluß auf die Demonstrationen/ Die Gauck-Behörde soll 102 Inoffizielle Mitarbeiter aus dem Kirchenbereich enttarnen  ■ Von Wolfgang Gast

Berlin (taz) — Der Fall Stolpe wird zunehmend zum Fall Kirche: Von A bis Z hat die CDU-Fraktion im Potsdamer Untersuchungsausschuß die Decknamen von 102 Inoffiziellen Mitarbeitern im Kirchenbereich aus den 600 Seiten des Gauck-Berichts akribisch aufgelistet, die nun vom Bundesbeauftragten für die Stasi- Unterlagen enttarnt werden sollen. Die Rolle der Kirche im ersten Arbeiter- und Bauernstaat rückt zunehmend aber auch durch Stasi-Dokumente und -Unterlagen aus dem früheren Parteiarchiv der SED ins Zwielicht. Manfred Stolpe war dabei nur eine der — nahe am Machterhaltungsinteresse der DDR-Mächtigen — agierenden Personen.

Noch am 25.10.1989, eine Woche nach dem Sturz Honeckers und zweieinhalb Wochen vor dem Fall der Mauer, trafen sich ausweislich der Parteiprotokolle das Politbüromitglied Günther Schabowski, der Kirchenstaatssekretär Kurt Löffler, der Stellvertreter des Ostberliner Oberbürgermeisters, Günter Hoffmann, mit dem damaligen Konsistorialpräsidenten Stolpe und dem berlin-brandenburgischen Oberkonsistorialrat Ingemar Pettelkau. Anlaß für das Gespräch war der „provokative Verlauf“ einer genehmigten Demonstration am Vortag und eine für den Abend in Berlin geplante, nicht genehmigte Demonstration der Oppositionellen zwischen Gethsemanekirche und Marienkriche.

Schabowski zeigte sich ziemlich enttäuscht über Stolpe, der ihm gegenüber Zusagen „bezüglich der Beruhigung der Lage“ gemacht hatte. Stolpes Erklärung, wegen „zu kurzer Arme“ ohne Einfluß geblieben zu sein, wollte der Erste Sekretär der Berliner Bezirksleitung der SED so einfach nicht hinnehmen. Es gehe nicht an, „vollmundige Versprechungen zu machen und später über zu kurze Arme zu klagen“. In der gegenwärtigen Zeit, so der Genosse, „berge es Gefahren in sich, wenn sich der kirchliche Raum weiterhin mißbrauchen lasse als Unterstand und Ausgangspunkt für Massendemonstrationen“. Schabowski räumt zwar ein, künftig „vielleicht“ mit Demonstrationen leben zu können, dies müsse aber wie in jedem anderen Lande wenigstens „geordnet verlaufen“.

Der SED-Funktionär klagte ein, „daß künftig von der Kirche ein spürbarer Einfluß ausgeübt wird“. Er erwarte von ihr, daß sie sich „von jenen Kräften distanziert, die sich nicht an die staatliche Ordnung halten“. Wegen dieser staatlichen Ordnung waren zwei Tage zuvor an die 300.000 Menschen in Leipzig auf die Straße gegangen.

Manfred Stolpe betonte während der Unterredung, daß die Kirchenleitung im Zusammenhang mit den spontan entstandenen Zusammenkünften in der Gethsemanekirche am 9.10.89 eine Erklärung abgegeben habe, mit der Bitte, von Demonstrationen abzusehen. Diese habe auch Wirkung gezeigt — durch die Ereignisse in Leipzig, Dresden und anderen Städten sei jedoch die „Stimmung wieder angeheizt worden“.

Konsistorialpräsident Stolpe, der nach Angaben der 'Berliner Zeitung‘ in früheren Jahren das ZK der SED auch über die interne Personalpolitik der Kirchen informierte, teilte seinem staatlichen Gegenüber in vorauseilendem Gehorsam mit, daß Bischof Gottfried Forck „heute in der Marienkirche eine Predigt zur Gewaltlosigkeit halten wird“.

Angesichts der nicht mehr verhinderbaren Demonstration bat Schabowski schließlich, „daß sich leitende Kirchenvertreter unter die Demonstranten begeben, um beruhigenden Einfluß auszuüben“. Für den SED-Funktionär „ein erster Schritt zur vernünftigen Kooperation“.

„Herr Stolpe griff diese Vorschläge des Genossen Schabowski auf“, hielt der Protokollant des Treffens in seinem Bericht fest. Genossen und Kirchenmänner kamen am Schluß zu einer Vereinbarung: „1. Der Staat ist bereit, die heutige nicht genehmigte Demonstration zu tolerieren. [...] 2. Herr Stolpe nimmt darauf Einfluß, daß zu Beginn der Demonstration der Gemeindepfarrer der Gethsemanekirche die Anwesenden auffordert, sich dem Wunsch der Kirchenleitung entsprechend friedlich und geordnet durch die Stadt zu bewegen. Kirchliche Amtsträger beteiligen sich an der Demonstration mit der Aufgabe, disziplinierend zu wirken. 3. In der Marienkirche wird der Bischof Forck alle Anwesenden auffordern, im Anschluß an den Gottesdienst auf jegliche demonstrative Handlungen zu verzichten [...] 4. Falls sich dennoch eine Demonstration formiert, wird nochmals über Megaphon bzw. Lautsprecher aufgefordert auseinanderzugehen. Gleichzeitig stehen gesellschaftliche Kräfte sowie die Volkspolizei in Bereitschaft, um in angemessener Weise beruhigend auf die Demonstranten einzuwirken.“

Das Gespräch verlief den Aufzeichnungen zufolge „in einer sachlichen und konstruktiven Atmosphäre“.