: Das Mittelländische Meer
■ Der "Lunge dreier Kontinente" fehlt die Luft zum Atmen. Ein Essay von Werner Raith zu Geschichte, Kultur und Ökologie rund ums Mare mediterraneo, das Europa zum Mare nostrum vereinnahmt hat
Der „Lunge dreier Kontinente“ fehlt die Luft zum Atmen.
Ein Essay VON WERNER RAITH zu Geschichte, Kultur und Ökologie rund ums Mare mediterraneo, das Europa zum Mare nostrum vereinnahmt hat
D
aß es mit dem salzigen Gewässer etwas ganz Besonderes auf sich haben mußte, war schon den ganz Alten klar. Die Ägypter sahen in ihm den „Spender des Lebens“, die Griechen vermuteten, es sei von tausenderlei teils faszinierenden, teils schrecklichen Gestalten bewohnt, etwa der Zauberin Circe, dem einäugigen Polyphem und den Ungeheuern Scylla und Charybdis. Die Iberer wunderten sich, warum im Ozean im Westen — dem Atlantik— so rege Ebbe und Flut herrschen, im Osten aber kaum. Die Karthager in Nordafrika sahen die anspülenden Wellen mal als Glücks-, mal als Unheilboten, die Römer reklamierten in ihrer eigenen bescheidenen Art alles, was die Gestade säumte, als ihnen von den Göttern höchstpersönlich zugesprochene Pfründe. Italiens Großmachtpolitiker, zweitausend Jahre später, knüpften daran an: Ihr Oberpoet Gabriele D'Annunzio erklärte die Adria, die Faschisten danach gleich das ganze Mediterraneum zum „Mare nostro“, zu „unserem Meer“. Inzwischen mischen sich auch noch die Tausende von Kilometern weit weg residierenden Amerikaner ein und nutzen den Zwitter zwischen Binnenmeer und offener See als Bühne für Einsätze als Weltpolizisten.
Das Mittelländische Meer: Es war schon immer mehr als nur ein großes Gewässer — eine Art Mutter aller vorgeschichtlichen Sagen und begehrte Beute aller Machtpolitiker. Doch unabhängig von Phantasiegebilden und Potenzgehabe war es tatsächlich so etwas wie der Urgrund für die Kultur und Zivilisation großer Teile der drei angrenzenden Kontinente: Europa, Vorderasien und Nordafrika. Das wird in Europa leicht vergessen oder allenfalls auf den griechisch-römischen Beitrag verkürzt — speziell da man seit dem Fall der letzten maurischen Festung Granada 1492 bequem die einst prunkvollen Quellen zuschütten konnte, die Kunst und Wissenschaft des Okzidents genährt hatten. Vernachlässigt werden bis heute auch die Auswirkungen des „Mare mediterraneo“ auf Klima und die Umwelt der angrenzenden Kontinente.
Beim griechischen Naturforscher und Mathematiker Erasthotenes im 3. Jahrhundert vor Christus, dem Leiter der Königlichen Bibliothek im ägyptischen Alexandrien, finden sich erstmals Hinweise auf das Mittelmeer als „Lunge“ der angrenzenden Länder; in Jahrtausenden vor sich gehende Hebungen und Senkungen des Meeresspiegels waren damals offenbar schon bekannt (sie wurden neuerdings über die schon altbekannten Muschelversteinerungen in mehrere hundert Meter hoch gelegenen Gebirgsausläufern hinaus auch durch Grabungen im Mittelmeerboden bestätigt, wo man von Gestein bedeckte Skelette von Landtieren fand). Der — mit dem Abschmelzen der Eisberge an den Polen und ihrer Wiederbildung korrespondierende — An- beziehungsweise Abstieg des Meeresniveaus hat dabei nicht nur den demographischen Effekt, die Menschen von den Bergen herunterzulocken, wenn das Meer zurückweicht, und sie wieder hinaufzudrängen, wenn sich die Tendenz, in Jahrtausenden, wieder umkehrt: Sie wirkt auch in einer bis heute nur erahnten Weise regenerierend auf das Land; der Begriff „Lunge“ ist daher sicher nicht danebengegriffen.
Daß derlei Regeneration immer wieder mal vonnöten war, haben auch die Alten gewußt: In der Bibel straft Gott die liederlichen, sich an der Schöpfung vergreifenden Menschen mit der Sintflut und zwingt sie so zu einem gesellschaftlichen Neuanfang. Im alten Rom erkannte der Liebesdichter Ovid die Naturzerstörung: „Das geschmeidige Gold wird aus der Erde gewühlt/ die Perlen holt man vom entlegensten Strand/ durch Molen vertreibt man des Meeres bläuliche Fluten.“ Gut eineinhalb Jahrhunderte später interpretierte der aus Karthago stammende Schriftsteller Tertullian die sich immer wieder mal regende Konvulsion als regelrechten Ausgleich der Natur: „Wird sind der Welt zur Last geworden. Kaum reichen die Elemente für uns aus, die Not wird dringender, und bei allen gibt es Klagen, weil die Natur uns nicht mehr erhält. Man muß wahrhaftig Pest, Hungersnot, Kriege und das Sinken von Städten in den Abgrund als Heilmittel, als eine Art Beschneidung des überwuchernden Menschengeschlechts betrachten...“
Daß das Mittelmeer eine Art Generalindikator für den ökologischen Zustand der Welt, zumindest aber der drei angrenzenden Kontinente ist, geht freilich oft nur schwer in der Menschen Hirn im Großraum Mittelmeer. Das weltweit erste große Umweltmanifest — „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome 1972 — wurde nicht zufällig in Italien ausgearbeitet, auch wenn viele ausländische Wissenschaftler, aufgeschreckt durch Alarmmeldungen just aus den petroleumreichen südlichen und östlichen Mittelmeeranrainern, daran feilten: Die „ewige Stadt“ hatte bereits 1968 den immer besorgniserregenderen Zustand des Meeres vor seiner Haustür zum Anlaß für einen spektakulären Schritt genommen — die Sperrung des weltberühmten Strandes von Ostia. Bis das „Club of Rome“-Papier in den Ländern Europas — auch in Italien — jedoch eine wirkungsvolle Umweltschutzbewegung auslöste, mußte noch ein halbes, bis Politiker reagierten, fast ein ganzes Jahrzehnt vergehen. Viele Zeitgenossen vor allem der meeresferneren Regionen haben bis heute noch nicht erkannt, wie sehr auch sie vom Mediterraneum abhängen — nicht nur in Sachen Tourismus, dessen immer grauenvollere Expansion Küsten und Städte zerstören, sondern vor allem im Klima und im Wasserkreislauf. Für sie spielt das Mittelmeer mit seiner Barrierefunktion gegen die Sahara eine mindestens so große Rolle wie der Atlantik und die Arktis.
F
ür Mittel- und Nordeuropäer ist das Mittelmeer in der Regel ein eher exotisches, allenfalls der Sonne und des lebenslustigen Personals wegen liebenswerter Weltbezirk. Nur wenige machen sich klar, daß ihre eigene Kultur bis heute zum überwiegenden Teil aus jenen Gegenden stammt, die sie als eher unterentwickelte, zivilisatorisch zurückgebliebene, häufig von Diktatoren oder fanatischen Religionslehrern beherrschte Zonen ansehen.
So sind zum Beispiel die Naturwissenschaften bis heute ohne den Beitrag der Araber undenkbar. Sie vereinfachten die bei den Griechen überkomplizierte Rechenkunst, boten Ersatz für die umständlichen römischen Ziffern, drangen als erste in die Geheimnisse der Zahlensysteme ein, ersannen Methoden zum Auffinden von Primzahlen (Grundlage zum Beispiel noch heute der Verschlüsselung von Geheimtexten). Darüber hinaus legten sie die Fundamente von Chemie und Physik, auf denen dann die großen europäischen Forscher seit dem 10. Jahrhundert aufbauen konnten.
Die Philosophie, auch die griechische, hielt der Barbarei nur deshalb über die Jahrtausende stand, weil arabische Gelehrte wie Avicenna und Averroes die wichtigsten Schriften des Aristoteles und seiner Nachfolger aufbewahrten und ihre Inhalte weiterentwickelten. Selbst das Christentum, das seinerseits selbst aus dem Osten kam — „Ex oriente lux“— hätte wohl das Mittelalter nicht überdauert, wäre da nicht ebenfalls aus dem Morgenland eine dort schon länger bekannte Bewegung in den Westen eingewandert — das Klosterwesen. Als die großen Konvents- und Ordensgründer wie Cassiodor und Benedikt im 5. und 6. Jahrhundert ihre Einrichtungen schufen, konnten sie bereits auf den jahrhundertelangen Erfahrungen vorchristlicher Glaubensbünde wie auf die schon seit dem 3. Jahrhundert erprobten Lebensformen byzantinischer Eremiten und Klöster aufbauen. Die in sich geschlossenen, autarken Gemeinschaften ermöglichten im Mittelalter den Erhalt wissenschaftlicher Bücher ebenso wie die Weitergabe religiöser Traditionen.
Gleichwohl bildete sich der Westen schon immer ein, mehr wert zu sein als das, woraus er selbst schöpfte. Die Römer, die ihre Bildung nahezu ausschließlich über versklavte Griechen erfuhren, sahen in den östlichen Nachbarn nichts anderes als Barbaren. Die Merowinger und Franken, die gegen die Mohamedaner zu Felde zogen, nahmen diesen zwar ihre Wissenschaft (und ihre Wissenschaftler) weg — betrachteten sie aber, weil Nichtchristen, als Untermenschen, die man aufgrund ihres Heidentums ruhig abschlachten durfte. Die Kreuzritter, die seit dem 11. Jahrhundert zu Zehntausenden gen Osten ritten, raubten unendlich viele Schätze, brachten unzählige Erfindungen für Haushalt, Verkehr, Kriegskunst mit, ohne daß sie jemals auch nur ein Wort der Hochschätzung für die Schöpfer all dieser Produkte fanden.
Nur einer machte eine Ausnahme — der Staufer Friedrich II. im 13. Jahrhundert. Der fuhr zwar auch in Sachen Christentum gen Osten, war von der dortigen Kultur dann aber so begeistert, daß er sich mit dem ägyptischen Sultan zusammensetzte und sich dessen Kultur und Weltanschauung erklären ließ. Dann einigte er sich friedlich hinsichtlich der Herrschaft über die Heiligen Stätten und fuhr nach Hause, um bei sich Honig aus dem Gelernten zu saugen und die Kunde zu verbreiten, daß die Morgenländer keine Teufel, sondern gelehrte und gottesfürchtige Menschen seien — nur daß sie eben nicht zum christlichen Glauben gehörten.
So etwas konnte nicht gutgehen. Friedrich II., schon vorher mit dem Papst wegen mangelnden Antiheidentums übers Kreuz, wurde erneut gebannt. Kultur und Religion ist Eigentum des Westens; der Fall von Granada und damit die Aufhebung des letzten maurischen Königreiches bewirkte zwei Jahrhunderte nach Friedrich, daß es nun niemanden mehr gab, der derlei Unsinn widersprach.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen