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GASTKOMMENTARZivile Gesellschaft USA?

■ Gewalt gegen Gewalt ist keine Lösung der „Rassenprobleme“

Wahlloser Mord, Plündereien, vielfache Brandstiftung — die Chancenlosen der amerikanischen Gesellschaft machen wieder einmal spektakulär auf sich aufmerksam. Rassenunruhen? Sicherlich, aber bei weitem nicht nur. Der unglaubliche Freispruch der vier Los Angeles-Polizisten durch die nicht schwarzen Geschworenen empört zwar jedermann, zeigt er doch den knochentiefen Rassismus der Gesellschaft und des Justizapparats. Aber die marodierenden Gangs und amoklaufenden Einzelgänger auf den Straßen von bislang L.A., San Francisco, Atlanta und Chicago sind auch aller Rassen und Herkunft. Allgemeiner Frust schwappt in wilde Wut über und eine kurzfristige Schwächung der Lage der Polizei lud zu hemmungslos opportunistischem Agieren im rechtsfreien Raum ein.

Den bestehenden Mächten fällt nichts weiteres dazu ein, als Gewalt gegen Gewalt einzusetzen; tausende schwerbewaffneter Nationalgardisten unterstützen die örtlichen Ordnungshüter, und der Ausnahmezustand ist in mindestens zwei Großstädten ausgerufen worden. Der Architekt des Golfkrieges, George Bush, kann sich mitten im Wahlkampf öffentlich nicht entscheiden, ob der flagrante Fehlspruch oder der davon entfachte Straßenkrieg mehr zu bedauern ist. Seinem schnell zusammengerufenen Treffen mit schwarzen Spitzenpolitikern wird vermutlich eine hastige Schadensbegrenzungsstrategie vorausgehen, jedoch ist keine grundlegende politische Änderung zu erwarten.

Den USA fehlen die sozialen Rahmenbedingungen einer zivilen Gesellschaft. Diese Tatsache hält die USA nicht davon ab, noch immer in der Welt das Vorbild der freiheitlichen Demokratie zu sein. Demokratie ist eben nicht mit einer zivilen Gesllschaft gleichzusetzen. Und die hierzulande vielbeschworene multikulturelle Gesellschaft haben die USA schon — und die ist in sich wohl kaum die friedensstiftende Lösung aller sozialen Probleme. Komisch, daß die sonst so kritischen Europäer die US- Eigenpropaganda des melting-pots anscheinend so ohne weiteres geschluckt haben. Oder ist das nur Wunschdenken? Die USA ist außerdem das Land, wo die Marktwirtschaft am meisten freie Hand hat, also auch das Land, wo die negativen ausgrenzenden Tendenzen des Systems am ersten zu spüren sind. In einer Welt, die mangels Einfallsreichtum nur ein Muster für die Weiterentwicklung der Menschheit hat, nämlich die marktwirtschaftliche Demokratie — sollten die amerikanischen Ausschreitungen mächtig zu denken geben. Carol Fiedler

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