piwik no script img

Gefährliche Altlast des Kalten Krieges

19 Nike-Herkules-Raketen warten im Wendland auf ihre Zerstörung/ Reaktorpläne zur Munitionsverbrennung gedeihen  ■ Von Hermann-Josef Tenhagen

Berlin (taz) — Die Treibsätze von 19 Nike-Herkules-Raketen, die bei der Delaborierfirma Kaus und Steinhaus im wendländischen Dragahn auf ihre Entsorgung warten, sind nur ein Teil des Erbes, das der Kalte Krieg hinterlassen hat. Waffen und Munition wurden hergestellt, ohne zu wissen, ob und wie sie schließlich wieder beseitigt werden können. Heute sucht der Bund nach Firmen und Verfahren, die helfen, 40 Jahre Produktionsvergangenheit zu bewältigen. Der Firma in Dragahn zum Beispiel hatten die Militärs von 1985 bis 1988 rund 90 Nike-Herkules-Raketen zur „Entsorgung“ geliefert. Doch im März 1988 mußte der 50-Mann-Betrieb von Kaus und Steinhaus die Zerlegung und anschließende Verbrennung der Treibsätze der Raketen abrupt stoppen. Die Gewerbeaufsicht in Lüneburg entzog der Firma die Genehmigung. Die Arbeitssicherheit sei nicht mehr gewährleistet. In einer Bundeswehrdienststelle im niedersächsischen Meppen war ein Treibsatz beim Versuch der Zerlegung detoniert. Folge für Dragahn: Die Marschtriebwerke und die je vier Stabtriebwerke von 19 Raketen warten nach wie vor auf ihre Delaborierung.

Kampf um zentrale Entsorgungsstelle

Mit der Entscheidung der Gewerbeaufsicht von 1988 begann ein Streit, der mittlerweile selbst für Eingeweihte unübersichtlich wird. Zerlegen und unter freiem Himmel verbrennen, so schnell wie möglich abtransportieren oder am Ort sicher lagern, um die Treibsätze später zu verbrennen: das sind die Optionen für die Triebwerke. Doch dahinter verbirgt sich der Kampf um eine zentrale Entsorgungsstelle für den Militärmüll der vergangenen Jahrzehnte. Die Bundeswehr, die Landesregierung in Hannover, die Anwohner — alle verfolgen eigene Interessen.

Inzwischen aber drängt die Zeit. Denn die Raketentriebsätze sind auch bei der derzeitigen Lagerung nicht ungefährlich. Jürgen Zierath vom Bundesinstitut für chemisch- technische Untersuchungen (BICT) erklärt warum: Die Treibsätze der Nike-Herkules bestehen aus Marschtriebwerken und Stabtriebwerken. Während das Marschtriebwerk der Rakete vom Standpunkt der chemischen Stabilität unkritisch ist, „können Nitroglyzerin und Nitrozellulose in den vier Stabtriebwerken der Rakete inzwischen chemisch instabil sein“ — auf deutsch: sich leicht entzünden. Auf einem Treffen vereinbarten das Gewerbeaufsichtsamt, das BICT, das niedersächsische Umweltministerium und die Delaborierfirma, daß ein Gutachten Lagersicherheit und Transportsicherheit der Treibsätze prüfen soll. Für das nächste halbe Jahr, so das Ergebnis des Treffens, seien insbesondere die 76 Stabtriebwerke noch als sicher zu betrachten.

Als Gutachter soll das dem Verteidigungsministerium unterstehende BICT beauftragt werden. Das Umweltministerium in Hannover, das die Rechtsaufsicht in Dragahn ausübt, erwartet: „In dem Gutachten soll sowohl die Transportfähigkeit als auch die Lagerfähigkeit der Raketentreibsätze geklärt werden“, so Barbara Mussack vom Umweltministerium. Wenn die Treibsätze noch transportiert werden können, „werden wir versuchen, die Bundeswehr in die Pflicht zu nehmen“, so die Ministeriumssprecherin. Die Bundeswehr aber will mit den Treibsätzen nichts mehr zu tun haben. „Daran haben wir keine Aktien mehr“, so ein Sprecher des Verteidigungsministeriums. Der Bund habe per Vertrag einen Entsorger gefunden, eben Kaus und Steinhaus, und nun müsse der die Probleme lösen. Die Bonner haben politisch gute Karten: „Es gibt nirgendwo in Deutschland eine Anlage, wo sie diese Stoffe verarbeiten können“, so Bundeswehr-Wissenschaftler Zierath. Mit anderen Worten: Ein Transport löst das Problem nicht.

Genährt werden die Zweifel am Sinn des Gutachtens auch an anderen Stellen. Anfang der Woche hatte der in Frage kommende Gutachter Zierath jedenfalls weder einen formellen Auftrag noch wichtige Nato-Unterlagen. Aufgrund derer soll er, so der Wille der Landesregierung, erst einmal versuchen, die Fragen nach Lagerfähigkeit und Transportfähigkeit zu beantworten. Andernfalls müsse entsprechendes Untersuchungsmaterial, sprich Chemikalien aus mehreren Stabraketen, besorgt werden, so Zierath. Der Genehmigungstango wäre perfekt. Denn gerade die Zerlegung der Raketentreibsätze, die zur Probeentnahme nötig wäre, war ja 1988 vom Gewerbeaufsichtsamt verboten worden. Was angesichts dieses Dilemmas getan werden kann, weiß Zierath auch nicht: „Fragen Sie mich was Einfacheres.“

Auch wenn alle Beteiligten versuchen, die Treibsätze von Bauplänen zu trennen, taucht hinter dem ganzen Gerangel die Frage nach einer zentralen Entsorgungsanlage für den Militärmüll der vergangenen Jahrzehnte immer wieder auf. Seit dem Verbot der Gewerbeaufsicht im März 1988 versucht Kaus und Steinhaus eine sogenannte Schadstoffminderungsanlage für die Waffenvernichtung genehmigt zu bekommen. Dazu gehört nach Angaben des Umweltministeriums Niedersachsens eine fernbedienbare Zerlegungsanlage mit Bunker, ein Lagerbunker, ein sogenannter Abbrandreaktor mit Abgaswäsche und ein Betriebsgebäude.

Der erste Antrag stammt vom 18. Juli 1988. Er wurde aber zurückgezogen, als sich die gesetzliche Grundlage im Immissionsschutz 1989 verschärfte. Am 11. Februar 1991 stellte Kaus und Steinhaus dann einen modifizierten Antrag für die Anlage und beantragte beim Umweltbundesamt (UBA) die Förderung ihres „weltweit besten Konzepts zur Zerlegung dieser Waffen“. Beim UBA begutachtet man den Antrag noch. Allerdings sieht das UBA schon, daß der bisherige Zustand, nämlich eine Verbrennung unter offenem Himmel, verbessert werden muß. Die Genehmigung für eine Förderung müsse in jedem Fall das Bundesumweltministerium erteilen.

Kaus und Steinhaus' Geschäftsführer Reiner Arend gibt sich derweil optimistisch. Es sei nur noch die Frage, ob das UBA eine Zinsverbilligung oder die direkte Förderung bewillige, so Arend gegenüber der taz. Auch die Bestätigung dafür, daß er die Raketentreibsätze noch „fünf bis zehn Jahre länger lagern kann“, erwartet Arend bald — genug Zeit und Geld, um eine solche Anlage zu bauen.

Das ist nun überhaupt nicht im Sinne der Bürgerinitiative Lüchow- Dannenberg. Die BI, die hauptsächlich gegen die Atomanlagen von Gorleben kämpft, hat inzwischen auch Kaus und Steinhaus auf dem Kieker. Die Ökologen befürchten, daß dort — auf dem Gelände, auf dem einmal die WAA Dragahn entstehen sollte — nun die zentrale Munitionsvernichtungsanlage der Republik entsteht. Die Raketentreibsätze sind für sie nur ein Treibsatz, um den Bau entsprechender Anlagen anzuschieben. Das Gefährdungspotential ist offensichtlich. Die Marschtriebwerke der Nike-Herkules werden zum Beispiel von Komposit-Festtreibstoffen angetrieben. Die Chemikalie Ammoniumperchlorat im Treibstoff bedeutet Dioxingefahr bei der Verbrennung.

Um den Bau der Anlage und die befürchtete jahrzehntelange Belastung zu verhindern, wären die WendländerInnen sogar bereit „eine letzte große Sauerei zu gestatten“, so BI-Sprecher Wolfgang Ehmke. Wenn man die Treibsätze nicht mehr abtransportieren könne, sollte die Firma oder der Kampfmittelbeseitigungsdienst der Bundeswehr die Raketentreibsätze eben schnellstmöglich vernichten — auch wenn dabei noch einmal Gift in die Umgebung abgegeben werde. Eine große zentrale Anlage sei dagegen „absolut nicht hinnehmbar“, so Ehmke.

Die Konstellation ist von anderen problematischen Industrieanlagen vertraut: Dragahn liegt so schön am Ende der Welt und ist zudem als Militäraltlast registriert. Das Gelände, auf dem Kaus und Steinhaus arbeitet, gehört dem Bund über die Industrieverwaltungs-Gesellschaft (IVG). Die IVG hat kein Interesse an einer kostspieligen Sanierung, der Bund aber um so mehr an der Munitionsentsorgungsanlage. Der Auftraggeber Bundeswehr hat ein Entsorgungsproblem. Und die Förderinstanz für eine neue Anlage ist ebenfalls der Bund.

Firmenchef Arend weiß um die Stärke seiner Position. „Man kann das Gelände kaum sanieren.“ Die Anlage wird kommen, da ist er sicher. „Wir müssen existieren, weil wir für die Bundeswehr wichtig sind.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen