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Das Universum in einem Punkt

■ Bei näherem Hinsehen alles andere als betulich: Wilhelm Raabes Berliner Typentheater in seinem 1857 erschienenen Roman »Chronik der Sperlingsgasse«. Ein Blick zurück nach vorn

Ich habe jetzt die alte Chronik mal wieder corrigiren müssen, und ich versichere Euch, mir ist manchmal körperlich in hohem Grade übel dabei geworden.« So schrieb Wilhelm Raabe am 1. September 1877 an die Familie Jensen, offensichtlich vom Brechreiz über sein Frühwerk Die Chronik der Sperlingsgasse geplagt. Verdient hat die Chronik dieses herbe Urteil nicht.

Raabe hatte das kleine Werk 1857 unter dem bedeutungsschweren Pseudonym Jacob Corvinus bei Stage veröffentlicht. Zu den Druckkosten mußte er 50 Taler beisteuern. Das Buch machte ihn auf einen Schlag berühmt.

Der 1831 in Eschershausen geborene Raabe war nach einer abgebrochenen Buchhändlerlehre, ohne Abitur, 1854 nach Berlin gekommen, um als Gast an der Universität Philosophie zu hören. »Ein angehender Dichter, Maler oder Musiker dürfe nirgend anders wohnen als hier«, behauptet er in der Chronik. Die Bewohner der älteren Viertel der großen Stadt schienen ihm dabei origineller und sonderbarer als die Leute in den modernen Gegenden. Leichtsinn, Arbeit und Ernst sah er in den winkligen Gassen eng beieinander. Die Sperlingsgasse, ein kurzer Durchgang, der die Kronenstraße mit der Spree verknüpfte, war ihm eine »unschätzbare Bühne des Weltlebens«, auf der sich alle Gegensätze des Daseins widerspiegelten und »das Universum sich in einem Punkt konzentrierte«.

»Bunte Figuren und Figürchen«

Trotz des Überschwangs muß Raabe zu Beginn seiner Berliner Zeit sehr einsam gewesen sein. Am 23. Mai 1861 heißt es in einem Brief: »Ohne Bekannte und Freunde in der großen Stadt war ich vollständig auf mich selbst beschränkt und bildete mir in dem Getümmel eine eigene Welt. Im Sommer 1855 schrieb ich meine Chronik der Sperlingsgasse, welche 1857 im Druck erschien. Das Buch ist jedenfalls sozusagen eine pathologische Merkwürdigkeit.«

Den Lesern muß die Chronik nicht pathologisch merkwürdig vorgekommen sein; sie erlebte Auflage um Auflage. Vielleicht, weil Raabe das Lokale in der Beschreibung Berlins genau beibehalten, die »bunten Figuren und Figürchen aber selbst geschaffen hat«.

Hauptperson ist der kauzige Theologiestudent Johannes Wachholder, den die »niedliche Putzmacherin« Marie in der Dachstube gegenüber weit mehr interessiert als Kants Kritik der reinen Vernunft. Wachholder himmelt die Angebetete erfolglos an, denn leider erfährt er seiner starken Kurzsichtigkeit wegen nie, ob sie zurücklächelt — der unglückliche Student ist so arm, daß er sich weder Brille noch Fernglas leisten kann. Auch die übrigen Bewohner der Sperlingsgasse schlagen sich mehr schlecht als recht durchs Leben: der Maler Franz, der Kesselschmied Marquart, eine Tänzerin mit ihrem unehelichen Kind, die dürre Dorette Pimpernell — höchstpersönlich Inhaberin eines Viktualienladens — und die Geheime Oberfinanzsekretärin Trampel mit ihren uncharmanten Töchtern »Öllise und Knarre« (Heloise und Klara), dem Kater Eros und dem Teckelhund Anteros.

Der Hang zum Höheren, der sich in der ambitionierten Namensgebung äußert, endet bei Raabes Figuren unausweichlich mit einer kläglichen Bauchlandung. Was bleibt, ist ein Pandämonium, ausgemalt mit viel Humor und Lust an skurrilem Unsinn. Auch die im Buch auftretenden Künstler, und es gibt viele, bleiben nicht ungeschoren. Der Karikaturist Strobel zeichnet im Winter für das bedeutende Journal 'Welke Blätter‘, um im Sommer bummeln zu können; der stattliche Dr. Wimmer verfaßt dortselbst Leitartikel, inspiriert durch einen Pudel namens »Rezensent«. Berlin muß damals schon ein Laufsteg für kurioses Outfit gewesen sein — schmückt sich doch der Hauptredakteur der 'Welken Blätter‘ mit einer feuerroten Perücke. Allenthalben herrscht Frieden und Freundlichkeit in dieser kleinen Welt. Unter Efeu und blühenden Rosensträuchern fällt man sich schluchzend an die Brust, als Franz endlich die Marie kriegt, während rote Abendwolken segeln und Kirchenglocken läuten...

Idyll mit dünnen Wänden

Aber der Schein trügt, das Idyll hat dünne Wände, und zwischen all der Heiterkeit in den Dachstuben blinzelt das deutsche Elend. Nach einem zaghaft kritischen Artikel wird Dr. Wimmer vom Polizeikommissär Stulpnase aus Berlin ausgewiesen. »Wahrhaftig«, seufzt der eliminierte Schriftsteller, »ich hätte heute ordentlich Lust, solid zu werden.« Unter der Bedingung, daß er seinen politischen Husten ausschwitzt, wird ihm bürgerliches Glück verheißen: ein Redakteursposten in München (!!!), die Ehe mit der drallen Nannerl, Klöße und Kinder. Und je mehr Wimmer den politischen Husten verliert, desto stärker gewinnt er an Umfang — zuletzt sieht man ihn, ganz in Spitzwegmanier, mit seiner fetten Familie durch den biedermeierlichen Alltag spazieren.

Der Lehrer Röder indes wird nach der Revolution von 1848/49 nach Amerika gejagt. Amerika ist in der Chronik der Sperlingsgasse immer gegenwärtig — als Land der Freiheit, der Verheißung, dem das Schiff mit den Auswanderern entgegenfährt. Auch die Schusterfamilie aus der Sperlingsgasse ist dabei.

Die Geschichte des Hauses in der Berliner Sperlingsgasse ist »die Geschichte seiner Bewohner, die Geschichte seiner Bewohner ist die Geschichte der Zeit, in welcher sie lebten und leben, die Geschichte der Zeiten ist die Geschichte der Menschheit...« Wilhelm Raabe würfelt in seiner Chronik Traum und Historie, Vergangenheit und Gegenwart in Episoden toll durcheinander. Vergeblich sieht er sich nach deutscher Größe um; »einen Dorn stößt man sich in den Finger, die Hosen zerreißt man, und zu sehen kriegt man nichts als den großen Christoffel«, armseliger Ersatz für das Hermannsbild der Deutschen, die ausbleibende geschichtliche Bedeutung.

Die Chronik der Sperlingsgasse ist nicht nur ein (versteckt) politisches, sie ist auch ein vergnügliches Buch. Befriedigt lehnt sich zurück, wer hie und da Anspielungen enträtselt wie die auf »Butter und Wagener« am Gänsemarkt oder die auf das Gedicht vom Herrn Offizier Goethe über eine wahnsinnige Dänenprinzessin.

Raabe allerdings hat es immer gewurmt, daß sein Frühwerk so viele Leser, sein ungleich kritischeres Spätwerk aber »nur Liebhaber« fand. »Der bunteste alte Hund der deutschen Literatur« beschrieb sich so: »Von Natur etwas blöde und scheu, werde ich deshalb oft für hoffährtig und anmaßend gehalten.« Raabe quälte sich mit der Analyse seiner inneren Gegensätze, und ein Gespräch über Ästhetik konnte ihn »in den Sumpf jagen«.

1856 verließ er Berlin, ohne seine Studien beendet zu haben. »Er entschied sich mit dem Erfolg seines ersten Romans für den Beruf des Schriftstellers, den er zuerst in Berlin, dann in Wolfenbüttel, Stuttgart und Braunschweig mit großem Fleiß und nicht ohne finanzielle Sorgen ausübte«, wie es betulich in einer Literaturgeschichte heißt. Das Vorurteil der Betulichkeit und Biederkeit haftet dem Schriftsteller Raabe hartnäckig an wie ein unverdient schlechter Ruf. Dabei befinden sich unter den hoffnungsvollen Kreuz- und Schöneberger Literaten, die sich in den Kneipen über leeres Papier beugen, vermutlich eingefleischte Raabe-Nachfolger. Nur würden sie das nie zugeben. Anke Westphal

Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse, Insel Verlag, it Nr. 370, 10 DM

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