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Frau gefunden, Friedhof geleast

Günter Grass plädiert für polnisch-deutsche Versöhnung und geriatrischen Sex  ■ Von Willi Winkler

Sie drängten uns, kaum daß wir die Nase über die Tischkante zu heben vermochten, in die Ecke, keilten uns ein links und rechts, und dann erzählten sie: Wie wunderbar das war damals, als noch richtige Repression herrschte, Brentano und sein Horst-Wessel-Vergleich für Bert Brecht und Ludwig Erhard mit seinen Pinschern und der Adenauer mit seinem Globke, und Hochhuth und der Papst und die Rechtspresse und alles. Nur einen Fels linker Beständigkeit gab es, einen Hort der forschrittlichen Literatur, und das, hätten Sie's gewußt, war die Gruppe47. Ja, wir wußten das schon.

Und wenn sie uns dann richtig eingezwängt hatten, daß wir nicht mehr ein noch aus wußten, dann mußten wir uns die Kriegserzählungen der Alten anhören, wie einmal ein jüngerer Mensch mit einem gewaltig-ostischen Schnauzer aus einem unsauberen Manuskript las, und das nachmalige Maschinengewehr der deutschen Literaturkritik (früher 'FAZ‘, heute Wetten, daß...), das RR dahinrollen ließ, aufhörte zu schreiben und nur noch bewunderte. Das war, euch Jüngeren sei's gesagt, sagten sie uns, das war die Geburtsstunde der deutschen Nachkriegsliteratur, das war die Blechtrommel von Günter Grass.

Was hätte man auch mehr schätzen können als diese Stellen, vor denen uns unsere Eltern lieber bewahrt hätten: der Pferdekopf mit den Aalen; der eifersüchtige Oskar Matzerath, der den Verkehr seines Vaters mit Maria vorzeitig abbricht; das Wettonanieren auf dem Wrack...

Grass, unser lieber Herr Grass, das Schreckgespenst mit dem Schnauzer, kam wie Oskar aus der Tiefe der fünziger Jahre, aus den Existentialistenkellern, in denen er getrommelt und das Waschbrett bedient hatte. Er war ein Jazzer, der in Paris als später Nachfahr der Avantgarde in den Straßencafés herumgelungert und in einem feuchten Keller an seinem Jahrhundertroman geschrieben hatte; der Künstler, der erst in Stein, dann in Ton, schließlich auf Papier arbeitete und dabei mächtig, nach Handwerkerart, die Sprache hernahm. Als in der Gruppe47 noch die kleinen festen Brüste als gewagt und Ausweis der Bekanntschaft mit dem Weibe galten, polterte der wüste Grass herein, fiel aber nicht etwa unangenehm auf, sondern wurde sogleich begeistert gefeiert. Endlich, da war es, das Neue!

So wird man berühmt, weltberühmt und vielleicht auch bald gut Freund mit dem Gedanken, für alles zuständig zu sein. Grass wurde bedeutend und stürzte sich mit Autodidakteneifer auf so ersprießliche Themen wie Bevölkerungswachstum, Gewerkschaftsbewegung, Nahrungsmittelverteilung, Verbandspolitik und den alltäglichen Krimskrams eines Literaturfunktionärs, trat da mal aus der Kirche aus, dort in die SPD ein, und da, da — senkten sich die Enden seines Schnauzers.

Die fetten Zeichen in seinen Büchern — das bucklicht Männlein, die Trommel, das Ritterkreuz, die Vogelscheuche, der sprechende Plattfisch, die apokalyptische Rättin, die zungenfertige Göttin Kali —: sie sind immer fetter und noch bedeutungsvoller geworden mit den Jahren. Heute ist dem jüngeren Menschen schon gar nicht mehr vorstellbar, wie unser Grass so umstandlos vom Schreckgespenst zum Bedenken- und beamteten Schnurrbartträger mutieren konnte.

In seinem neuen Buch Unkenrufe macht er sich ein wenig lustig über seinen verheerenden Ruf als Kassandra, als Menetekel-Maler und fleißiger Weltuntergangsprophet. Er schreibt ein Buch, in dem er eine Person agieren läßt, der er das eigene Alter, eigene Eigenschaften, Gewohnheiten, Vorlieben andichtet („Denn wenn Reschke tankte, tankte er bleifrei“), ihn reden und schreiben läßt, daß es nur so holzt von Sachbearbeiterprosa, um sich dann als getreuer Chronist doch davon zu distanzieren.

Alexander Reschke, Kunsthistoriker aus Bochum, lernt am Allerseelentage 1989 in Danzig/Gdansk die Vergolderin Alexandra Pistkowska kennen. Beide sind verwitwet, was läge also näher, als sich zusammenzutun. Damit hat es noch seine Weile, jedenfalls mit der Legalisierung dieser späten Liebe. Ein nekrophiles Problem treibt die beiden zueinander: Daß die Toten möchten ruhen in Heimaterde, wie es Alexandra in ihrem reichlich angeführten Polen-Deutsch gesagt hätte. Die beiden Namenszwillinge gründen eine Deutsch-Polnische Friedhofsgesellschaft mit dem Satzungsziel, die einst Vertriebenen nach ihrem selig Ende in die Erde der alten Heimat zurückzuführen. Sie bleibt in Gdansk, er in Bochum, beide sammeln sie eifrig Adressen, Fürsprecher, Geldgeber, die Idee wird ein durchschlagender Erfolg. Leider wird das Projekt immer größer, immer lukrativer, Hilfskräfte müssen engagiert, Nebenhandlungen und -personen erfunden werden.

Zum Beispiel der Bengale Mister Chatterjee, in Aussehen und Herkunft dem verfolgten Schriftsteller und Grass-Schüler Salman Rushdie nachgebildet, der in Danzig Rikschataxen einführt. Reschke investiert in deren serienmäßige Produktion in der ehemaligen Lenin-Werft heimlich Geld aus seiner Begräbnisunternehmung. Zum Ende des Buches sind die Großstädte der Welt befreit von Autos, überall klingeln die Rikschataxen mit ihrem melodischen Dreiklang, nachempfunden dem Rufen der Unken, den fetten kleinen Tierchen in der Danziger Bucht, die Reschke auf Tonband aufgenommen hat, um dem Autor eine Metapher und einen Titel zu liefern.

Irgendwo war den beiden „ihre Idee abhanden gekommen“, klagt der Erzähler für sich und sein um Völkerverständigung bemühtes Liebespaar. Reschke verliert die Lust an den Gräbern, schickt seinem Autor die gesammelten Dokumente, verpflichtet ihn, daraus eine exemplarische Geschichte zu formen und verunglückt bald darauf — wie Grass schon lang vorher seine Erzählung.

„...als das begann, was Handlung genannt wird...“ Kaum ist sie in Gang gesetzt, gerät sie ihm schon ins Stocken. Was soll er noch erzählen: Daß seine großartige Idee, Asche zu Asche, Staub zu Staub, scheitern wird, verrät uns Grass früh genug. Hier braucht es schon eine gewisse Selbstverleugnung, um noch weiterzulesen. Die Handlung, die nun beginnen sollte, ist Grass nicht genug, sie muß ordentlich mit allem, was dem Autor als politischem Zeitgenossen am Herzen liegt, ausstaffiert werden. Und Grass, der liebe Grass, schont seine Leser nicht: Auf Seite elf läßt er sie um die „Klimaveränderung“ fürchten, auf Seite zwölf raunt er ihnen „Tschernobyl“ zu, auf Seite15 schon „geht ein Säkulum zu Ende, das sich Vernichtungskriegen, Massenvertreibungen, dem ungezählten Tod verschrieben hat“. Sein spätes Paar ist so ordentlich unterfüttert, aber nicht unbedingt anziehender geworden. Was Alexander an Alexandra zunächst anzog, war deren Einkaufsnetz, mit dem sie auf dem Markt unterwegs war statt mit einer Plastiktüte. Dieses Müsli- Symbol schleppt der Autor mühsam durch die Erzählung, läßt Reschkes StudentInnen in Bochum nach dieser Vorlage neue, weitere Netze stricken, und am Ende legt er es dem Leser als Reliquie auf den Tisch.

In einem fort scheint Grass sich die Pfeife zu stopfen. Man kann sich vorstellen, wie er das Buch beim Entstehen seinem Freund Björn Engholm vorliest. Wie sie beide bei einem guten Glase Rotwein zusammensitzen, wie Rauch aufsteigt aus den beiden sozialdemokratischen Pfeifen, wie Engholm „ein Stück weit“ der Argumentation des Schriftstellers zu folgen bereit ist, dann aber an die leidigen Tagesgeschäfte erinnert wird. Sind es die inzwischen bedenklich weit herabgesenkten Schnurrbartenden des Schriftstellers, die Björn Engholm an Bonn und seinen Geschäftsführer Karl-Heinz Blessing denken lassen?

Wir wissen es nicht. Aber wir ahnen dieses behägige Stopfen, Schmauchen und Weiterlesen, Wort an Wort gesetzt, brav, biedermännisch, mit wenig Lust, sich einmal davontragen zu lassen. Wie ist Reschkes Stehlampe? „Neu“, aber doch „formschön“. Was tut das „spielzeugkleine Fachwerkhaus“? Es „lädt zu Thekengesprächen ein“. Der Autor beklagt sich, „ein einzelnes Wort leermelken“ zu müssen, aber muß man deshalb Zeuge seines Melkkurses werden?

Mit der Zukunft, aus der er gern unkt, hat Grass wieder einmal seine Schwierigkeiten. Die Erzählung spielt zwischen November 1989 und Spätwinter 1992, wird aber aus einer unbekannten oder nur dem Autor bekannten Zukunft geschrieben. So genau weiß er es allerdings auch nicht, denn einmal läßt er seinen Reschke am Stock gehen, „fast erblindet“ (Seite35), schickt ihn zum Ende hin aber mit seiner inzwischen angetrauten Alexandra durch Italien, wo sie sich vornehmlich Kirchen anschauen. Laufe am Stock, fast erblindet..., saubere Arbeit. Alexander überlebt diese Reise nicht, hat demnach gar nicht die Zeit für das Schicksal, das ihm sein Erfinder 260 Seiten zuvor zugedacht hatte.

Grass oder der Erzähler redet sich fein auf die Aktenlage hinaus, daß ihm gar nichts anderes übrigbleibe, als Reschkes Aufzeichnungen zu referieren und zu zitieren. Aber muß Reschke, um eines denkbar bescheidenen Mehrwerts an Ironie willen, deshalb ununterbrochen in der bleichen, erschöpften Prosa eines Bonner Politikers faseln, immer „von etwas ausgehen“, „in Sachen“ dies und jenes tätig werden, seiner künftigen Frau das Bochumer Appartement als „eine allerdings geräumige Dreizimmerwohnung von studioartigem Zuschnitt“ schildern, um dann in bester sozialbewußter Prospekt- Manier fortzufahren: „Freilich in einem unansehnlichen Neubau mit wenig imposantem Ausblick. Eine Industrielandschaft, die von relativ viel Grünfläche aufgelokkert wird...“

Von relativ viel Grünfläche aufgelockert — das soll Günter Grass geschrieben haben?

Bleibt die Altersliebe. Max Frisch tat sich in Montauk den Gefallen, mit einer jüngeren Frau anzubändeln, Grass ist ein wenig realistischer und preist den geriatrischen Sex („Du hast mich gebumst ganz schön“, schreibt ihm seine Alexandra, weil man das als rüstiger Sechziger wohl ganz gern hört). Leider entsteht aus beider Nähe zum Grabe dieses fatale Fabel von dem Bestattungsunternehmen, das einmal Polen und Deutschland miteinander aussöhnen sollte, aber in übler Geschäftemacherei endet, in „Bungagolfs“ und sogar Kreißsälen für die gebärenden Kinder der Greise, die nach Danzig kommen, um knapp über der heimatlichen Grube zu sterben, in die sie fahren wollen.

Gesellschaft gegründet, Friedhof geleast, Frau gefunden: Grass gönnt den beiden ihr spätes Glück bei Pilzgerichten, beim gemeinsamen Besichtigen von Kirchen, bei Strandausflügen an die Nehrung, an der schon Oskar glücklich die Trommel schlug. Dieser Leser hätte davon mehr vertragen als vom Brummkreiseln der Weltprobleme, die bei bester Absicht auch nicht fundierter vorgetragen werden als bei Freund Björn. ich will dich lieben bis zur erblindung, heißt es im Liede, bis man uns fortträgt in die katakomben/ denen nichts entgeht.

Menschenfreundlich, wie der Autor dann doch ist, gönnt er seinen Bestattungsunternehmern einen unordentlichen Tod im todessüchtigen Süditalien, einen Unfall und die letzte Ruhe in einem ausgebrannten Auto, das, Wunder des Erzählens, dann auch noch auf einen Friedhof gestürzt ist. Wie die Erzählung.

Günter Grass: Unkenrufe. Eine Erzählung. Steidl-Verlag, Göttingen. 300Seiten, gebunden, 38DM.

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