: Jetzt hat die ÖTV-Basis das Wort
■ Je nach Couleur liegt das Verhandlungsergebnis für die Tarifpartner sowohl unterhalb als auch über dem Schlichterspruch/ Deutsche Wirtschaft zeigt sich entsetzt/ Im Alltag herrscht wieder Normalität
Stuttgart (dpa/ap/taz) — Wenn die Gewerkschaftsbasis dem Ergebnis der ÖTV-Tarifverhandlungen vom Donnerstag zustimmt, kann der größte und längste Arbeitskampf im öffentlichen Dienst als beendet betrachtet werden. Die Tarifparteien einigten sich in Stuttgart auf 5,4 Prozent lineare Einkommenserhöhung für die 2,3 Millionen Beschäftigten sowie einen gestaffelten Einmalbetrag als soziale Komponente.
Bei der ÖTV müssen noch mehr als 50 Prozent der an der Abstimmung teilnehmenden Gewerkschaftsmitglieder dem Verhandlungsergebnis zustimmen, damit es Bestand hat, und bei der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft 30 Prozent aller Mitglieder. Die notwendige Zustimmungsquote in der Eisenbahner- und der Postgewerkschaft beträgt jeweils ein Viertel der Abstimmungsteilnehmer. Da nach ersten Einschätzungen die Basis über den Abschluß offensichtlich nicht überschwenglich begeistert ist, könnte die Urabstimmung ein knappes Ergebnis bringen.
Im einzelnen beschlossen die Tarifpartner, die Löhne und Gehälter für die unteren, mittleren und gehobenen Einkommensgruppen zum 1.Mai um 5,4 Prozent, die der höheren Einkommensgruppen erst zum 1.Juni um diesen Satz anzuheben. Für die ersten vier Monate des Jahres sollen der einfache und mittlere Dienst als soziale Komponente einmalig 750 Mark, die gehobenen Gruppen 600 Mark bekommen. Der höhere Dienst geht beim Festbetrag leer aus. Für alle aber wird das Urlaubsgeld um 200 Mark aufgestockt. Die Auszubildenden bekommen 150 Mark höhere Vergütungen. Der Tarifvertrag hat eine Laufzeit von zwölf Monaten bis zum 31. 12. 1992.
Die deutschen Industrieverbände zeigten sich einhellig „besorgt“ über das Tarifergebnis. Der Bundesverband der Deutschen Industrie hält es sogar für „gesamtwirtschaftlich schädlich“. Allerdings sei, so der Industrie- und Handelstag, nicht der Staat der Verlierer, sondern der Bürger, der den Abschluß mit höheren Abgaben finanzieren müsse. Das Münchner Ifo-Institut bezifferte die Streikkosten für die deutsche Volkswirtschaft vorläufig auf etwa eine Milliarde Mark.
Noch am Donnerstag rechneten die Verhandlungsführer dieser Tarifrunde nach und kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die ÖTV-Chefin Monika Wulf-Mathies wertete den Abschluß als großen Erfolg. Der Schlichterspruch sei übertroffen worden: „Unterm Strich überschreiten wir das letzte Arbeitgeberangebot um ein Prozent.“ Bundesinnenminister Rudolf Seiters wiederum summierte seine Berechnungen auf rund 480 Millionen Mark unter der Schlichterempfehlung und sprach von einem Gesamtvolumen der Einigung in Höhe von 5,12 Prozent. Der Duisburger Oberstadtdirektor Richard Klein, Verhandlungsführer der Kommunen, errechnete, daß die Gemeinden gegenüber dem Schlichterspruch nun „etwas draufzahlen“ müßten, nämlich 180 Millionen Mark. Für die Bundesländer bewertete Heide Simonis den Abschluß als fair und volkswirtschaftlich tragbar.
Pünktlich mit Beginn der Frühschicht rollte am Freitag in den Großstädten der Nahverkehr wieder an. Müllwerker, Postbeschäftigte, das Krankenhaus-, Kindergarten- und Verwaltungspersonal nahm die Arbeit wieder auf. Der fast lahmgelegte Fernverkehr der Bundesbahn kam wieder in Gang; bereits gestern mittag fuhren die ersten sieben ICE an. Auch der Luftverkehr wurde gestern wieder weitgehend planmäßig abgewickelt. Die Post wird die 75 Millionen liegengebliebene Briefe und vier Millionen Päckchen nur mit Sonderschichten am Wochenende bewältigen können, kündigte ein Postsprecher an. Nicht viel besser ergeht es den Müllwerkern. Nach Notdienstplänen werden zunächst die Innenstädte gereinigt.
Vom Tarifabschluß für den öffentlichen Dienst in Westdeutschland profitieren auch die Beschäftigten in den neuen Bundesländern. Die ÖTV wies am Freitag in Erfurt darauf hin, daß die ostdeutschen Beschäftigten 60 Prozent der West-Erhöhung erhalten.
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