Sarajevo — das Jerusalem des Balkans

■ In der bosnischen Hauptstadt koexistieren seit einem halben Jahrtausend verschiedene Kulturen und Religionen

Wie Jerusalem schien Sarajevo von der Geschichte her geradezu prädestiniert, ein Modell für Toleranz und multikulturelles Zusammenleben in gegenseitigem Respekt zu sein. Und wie Jerusalem scheint es diese Chance verspielt zu haben. Von den etwa eine halbe Million Einwohnern sind 49 Prozent Moslems, 28 Prozent Serben, sieben Prozent Kroaten und 16 Prozent haben sich bei der Volkszählung von 1981 als Jugoslawen bezeichnet, entstammen in der Regel also ethnisch gemischten Ehen. Auf dichtem Raum drängen sich in der Altstadt der bosnischen Metropole die Bauwerke christlicher, jüdischer und islamischer Kultur. Von der großen Gazi-Husref-Beg-Moschee zur Alten serbisch-orthodoxen Kirche sind es nur wenige Schritte, nicht weiter als von der römisch-katholischen Kathedrale hinüber zur Alten Synagoge. Es gibt ein Derwisch- Kloster und ein halbes Dutzend Medressen, Karawansereien und türkische Bäder. Über 400 Jahre osmanischer Herrschaft haben das Stadtbild deutlich geprägt.

Die Türken eroberten die Stadt an der Bosna, dem Fluß, der der Republik den Namen gegeben hat, im Jahr 1435 und bauten schon wenige Jahrzehnte danach einen Serail, türkisch: saray, einen Palast, in den der Beg, der Statthalter des Osmanischen Reiches, einzog. Aus dem türkischen Saray-ovasi (Saray-Feld) entstand der heutige Name Sarajevo, der schon 1507 zum erstenmal erwähnt wird. Die Stadt entwickelte sich schon bald zur Endstation der Kamelkarawanen aus Istanbul. Es wurden Moscheen, Medressen und moslemische Klöster errichtet, bald auch kamen Schulen, Bäder, Gasthäuser, eine Bibliothek, eine Armenküche und der überdachte Basar. Bereits in dieser frühen Zeit war die Stadt ein multikulturelles Zentrum. In einem Verzeichnis von 1485 sind 92 moslemische Häuser, 103 christliche Häuser und 8 Häuser von Kaufleuten aus der Stadtrepublik Dubrovnik aufgelistet. Ein halbes Jahrhundert später kam noch eine große Gemeinde sephardischer Juden hinzu, die sich vor den Verfolgungen der spanischen Inquisition ins tolerante Osmanische Reich geflüchtet hatte. Die Juden lebten vorwiegend in den moslemischen Stadtteilen und handelten in der Čaršija, dem Marktviertel. Noch heute trägt der historische Stadtkern von Sarajevo den türkischen Namen Baščaršija, zu deutsch: Hauptmarkt. Dort wurde im übrigen nur gearbeitet, vor allem Handwerk, und gehandelt. Daneben gab es die mahala, die Wohnviertel, ein urbanes Prinzip, das dem damaligen Europa völlig fremd war. Gerade die Baščaršija mit ihren malerischen Marktgassen, wo man heute noch Kebab ißt und überall orientalische Musik hört, war in den letzten Tagen unter massivem Beschuß der Artillerie.

Schon zweimal in ihrer halbtausendjährigen Geschichte wurde Sarajevo mutwillig zerstört. 1697 plünderte Prinz Eugen, der österreichische Feldherr, die Stadt und setzte sie in Brand. 94 Moscheen und sämtliche Kirchen fielen den Flammen zum Opfer. Doch erst 1878 erlangte Österreich-Ungarn für längere Zeit die Herrschaft über Sarajevo. Auf dem Berliner Kongreß von 1878 erhielt die Donaumonarchie das Mandat zur Okkupation von Bosnien-Herzegowina, das 1908 schließlich kurzum annektiert wurde. Gegen die Fremdherrschaft aus Wien erhob sich schon bald Widerstand. Am 18. Juni 1914 fiel der österreichische Thronfolger auf einer Brücke mitten in Sarajevo einem Attentat der Geheimorganisation „Junges Bosnien“ zum Opfer. Es war das Signal für den Ersten Weltkrieg, aus dem der erste Staat der Jugo-Slawen, der Süd-Slawen, hervorging.

Im Zweiten Weltkrieg wurde der neue Staat zerschlagen, Hitlers Luftwaffe bombardierte Sarajevo, das zu einer Provinzhauptstadt der faschistischen kroatischen Ustascha-Republik wurde, bis Titos Partisanen die Stadt befreiten. Nirgends in Jugoslawien wütete der Bürgerkrieg zwischen Ustaschas, königstreuen Tschetniks und kommunistischen Partisanen so grausam wie in Bosnien- Herzegowina. Und mehr als anderswo im zerbrochenen Jugoslawien droht heute in dieser Republik, wo Moslems, Serben und Kroaten fast ein halbes Jahrhundert lang relativ problemlos zusammengelebt haben, ein Krieg, der hundert Fronten hat und oft von Haustür zu Haustür geführt wird. Zwischen multikulturellem Zusammenleben und ethnischer Entmischung — d.h. Flucht und Vertreibung — gibt es für Sarajevo, der Hauptstadt der Republik, keine Alternative. Thomas Schmid