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Täglicher Stau im größten Dorf Deutschlands

■ Serie: Berlin vor den Kommunalwahlen (Teil 21)/ In Steglitz führt eine hektische Hauptverkehrsstraße in die Wohnidylle der Beamten und Angestellten/ Wenig Industrie und viel Konsummöglichkeiten rund um Abschreibungsruine »Kreisel«

Steglitz. Es war das größte Dorf Deutschlands, als es 1920 in das damalige Groß-Berlin eingemeindet wurde, und dieser Charakter ist dem Bezirk Steglitz bis heute erhalten geblieben. Großstädtischer Trubel herrscht lediglich in der Schloßstraße, jenem Teilstück der Bundesstraße 1, das früher den alten Dorfkern mit der Hauptstadt verband und das sich erst zur Geschäftsmeile mauserte, als man nach dem 2. Weltkrieg zum Flanieren und Einkaufen nicht mehr in die Friedrich- und die Leipziger Straße fahren konnte. In den fünfziger und sechziger Jahren boomte es zwischen Walter-Schreiber- und Hermann-Ehlers-Platz, wurden dort die großen Warenhäuser erbaut, in deren Gefolge sich die kleinen Geschäfte in den alten Häusern einnisteten. Diese Entwicklung ereilte auch den Titaniapalast, der, 1928 als Großkino im Stil der neuen Sachlichkeit errichtet, zwanzig Jahre später Gründungsstätte der Freien Universität war und nun Ladenpassagen beherbergt.

Anfang der sechziger Jahre wurde mit dem ersten Bauwerk begonnen, welches das Steglitzer Stadtbild nachhaltig verschandelte. Parallel zur Schloßstraße wurde eine breite Schneise für die Westtangente geschlagen. Dieses bis heute unvollendete Sinnbild einer autogerechten Stadt hat seinen Zweck jedoch nie voll erfüllt, denn während auf der Piste manchmal Leere herrscht, ist die Schloßstraße chronisch verstopft.

Dieser Misere wollen die Steglitzer Bezirkspolitiker nun zu Leibe rücken. Der Durchgangsverkehr, so das gemeinsam formulierte Ziel, soll aus der Einkaufsmeile verbannt werden; über die Mittel, dies zu erreichen, sind sich die Parteien allerdings uneinig. Für den CDU-Bürgermeisterkandidaten Herbert Weber kommt eine Sperrung der Schloßstraße nicht in Frage, er will mit einem attraktiven Parkangebot die Autofahrer unter den Kreisel locken. Dort seien noch vier Tiefkeller ungenutzt, die 350 Plätze für Park- and-Ride böten. SPD, FDP und Grüne hingegen wollen weitreichendere Maßnahmen ergreifen, um den täglichen Strom der 40.000 Besucher zu kanalisieren. Der Spitzenkandidat der SPD, Rolf Kempfer, will lediglich für die Anwohner Sonderparkmöglichkeiten schaffen und die Straße für den Durchgangsverkehr sperren. Von einer Einschränkung der Fahrspuren hält er jedoch nichts. Die Grünen wollen den privaten Autoverkehr aus der Schloßstraße verbannen und den Straßenraum fußgängerfreundlicher gestalten.

So unterschiedlich die Vorstellungen über die Gestaltung der Schloßstraße sind, so einig sind sich die Bezirkspolitiker über die Zukunft einer weiteren Durchgangsstraße, die vom Umland in die City führen soll, der vorerst nur auf dem Papier existierenden Bundesstraße 101. Deren Ausbau wird von der Senatsverwaltung für Verkehr angestrebt, doch will selbst Haases Parteifreund Weber auf der freigehaltenen Trasse lieber Wohnungen bauen.

Für den Wohnungsbau, auch darin sind sich die Bezirkspolitiker einig, sollen ebenfalls die durch den Abzug der Alliierten freigewordenen Areale genutzt werden. Fünf Prozent der Bezirksfläche stehen ab 1994 zur Verfügung. Allerdings hat der Bund seinen Daumen auf diesem Besitz. Weber würde ihm einen Teil davon auch zur Nutzung für den künftigen Regierungssitz belassen, doch hält Kempfer nichts von solchen »Beamtenghettos«.

Die Regierungsbeamten, sofern sie denn kommen, dürften allerdings in Steglitz nicht sonderlich auffallen, denn seit der Hamburger Kaufmann Johann Carstenn 1865 die Güter Giesensdorf und Lichterfelde kaufte, um sie parzellenweise an reiche Berliner zu vergeben, haben sich hier mit Vorliebe Offiziere und Beamte niedergelassen. Industrie war und ist im Bezirk kaum zu finden, die minimale Gewerbeansiedlung konzentriert sich auf die Randareale an der Haynauer Straße und an der Görzallee. Die dort Beschäftigten kommen aus allen Teilen des ehemaligen West- Berlins, Arbeiterviertel sucht man hier vergebens. Steglitz ist eine Hochburg der Eigenheimbesitzer und ein klassischer Beamten- und Angestelltenbezirk mit der ihm eigenen konservativen Geruhsamkeit. Revolten und Barrikadenkämpfe wie in anderen Vierteln Berlins haben in diesem Milieu nicht getobt, doch stand hier die Wiege der Wandervogelbewegung. Am »Steglitzer Gymnasium« in der Heesestraße wurde 1901 der »Ausschuß für Schülerfahrten« als »Gegengewicht gegen die pflichtmäßige Gebundenheit der Schule und die Stubenhockerei« gegründet, eine der völkischen Quellen, aus denen sich später der Nationalsozialismus speiste.

Die rechtskonservative Tradition hat in den letzten Jahren wieder Aktualität erhalten. Zwar lagen 1989 die Wahlergebnisse der »Republikaner« in Steglitz nicht über dem Landesdurchschnitt, doch schätzt der Grünen-Spitzenkandidat Udo Bensel deren Wählerpotential im Bezirk recht hoch ein, da hier auch heute noch ein kleines rechtsstehendes Milieu beheimatet sei. Der Anteil der ausländischen Bürger an der Bevölkerung ist relativ gering, soziale Spannungen sind kaum zu verzeichnen. Das Reizthema »Asylpolitik« steht nach den Beobachtungen der Spitzenkandidaten bei den Bürgern kaum im Vordergrund. Allerdings bekommen die Bezirksamtskandidaten auch den generellen Politikverdruß der Bürger zu spüren. Die Ursache dafür machen sie vorwiegend in der Landespolitik aus, die bislang zuwenig zeigbare Ergebnisse vorweisen könne. Doch nicht nur wegen ihres schlechten Images hadern die Bezirks- mit den Landespolitikern. Unter deren Neigung, manche für Steglitz wichtige Entscheidungen an sich zu ziehen, klagen alle drei Bezirksamtskandidaten. Und wie man unter deren Entscheidungen leiden kann, das hat man in Steglitz zur Genüge erfahren, mußte der Bezirk doch seinen Namen für einen der größten Skandale der Berliner Nachkriegspolitik hergeben. Seit über zehn Jahren hocken nunmehr die Bezirkspolitiker im Kreisel und sorgen somit durch ihr bloßes Dasein dafür, daß die einstige Abschreibungsruine halbwegs wirtschaftlich genutzt wird. Dieter Rulff

Fortsetzung am Freitag

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