: Piraten in der BRD
Angelica Domröse wechselt vom Schauspiel zur Regie und inszeniert „Brut“ von Matthias Zschokke im Ostberliner bat ■ Von Sabine Seifert
Die Seefahrt findet längst woanders statt“, lautet einer der vielen wohlklingenden Sätze des Stücks. Das Piratenschiff darbt in den karibischen Sümpfen; der Teer tropft aus den Fugen, bald wird es manövrierunfähig sein. Handelsroute und Beute sind nicht in Sicht. Selbst die Kommandantin, „die blutige Tristana“ Nunez, hängt auf den Bohlen herum wie „eine rheumatische Landwirtin“. Ihre Geisel, einen Dichter namens Julio Sloop („plötzlich ist so ein Dichter keinen Pfennig mehr wert — irgendsoeine Umwälzung in seiner Heimat, schon kriegst du ihn geschenkt“), der im Mastkäfig, der Sonne und eimerweise Brei ausgeliefert, in den Seilen hängt, ersticht sie eigenhändig. Danach gibt sie ihren Beruf auf. Sie war eine große Piratin, nun fährt das Schiff im Kreis.
Sascha Selkirk nimmt das Piratendasein als einzige ernst; sie hat sich als verkleideter Matrose unter die Piraten gemischt. Eine tragische Figur unter den ganzen tragikomischen Gestalten, die sonst das Schiff bevölkern und ihr zu nahe treten wollen: Sascha ist erfahrungshungrig („ich hab noch nie überhaupt irgendwas erlebt“) und vermeidet doch jede Rührung wie die Pest; sie erhängt sich. Der Steuermann ist blind, sein Gehilfe dumm; der Navigator vermißt und errechnet Kurse, die niemand fährt; der Koch läßt sich vom Dichter, der selbst die schlimmsten körperlichen Qualen poetisch ummünzt, den Finger abbeißen. Denn sie wissen nicht, was sie tun — und was sie lassen sollen.
Das Piratendasein als Parabel auf die selbstgewählte Autonomie — „Man ist doch so frei hier“, sagt der Koch. „Man bringt die Gäste um! Man schneidet Taue durch! Man ißt nur, wenn man Lust hat! Man erfindet neue Musik! Da ist eben auch freie Küche!“ So manche Generation ist ausgezogen — im Leben des Autors Zschokke, Jahrgang 1954, war es die 68er —, gegen Gesetze und Konvention zu rebellieren: solange man rebellierte, war die Welt in schönster Unordnung. Aber wehe, man hat Erfolg, wehe man geht — oder gerät — unter die Räuber. Dann sind die Sitten rauh, die Hände grob und die Köpfe leer. Die Freiheit, eine Pest. — Angelica Domröse, die im Studiotheater des Ostberliner Regieinstituts bat überhaupt das erste Mal Regie führte, hat das Stück des Wahlberliners Matthias Zschokke mit Schauspielstudenten der „Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch“ inszeniert. Die spielen ordentlich, sind flapsig genug, die absurden, pseudointellektuellen Plänkeleien, angereichert mit klassischem und umgangssprachlichem Zitatmüll, an Mann und Frau zu bringen.
Brut — dem Sinn des Titels bin ich nicht auf die Spur gekommen, vermutlich liegt seine Auflösung im Zschokke-Roman Die Piraten verborgen, der die Stückvorlage geliefert hat — ist ein „Schauspiel mit Musik“, so will es der Autor; die Regisseurin hat statt des vorgesehenen kleinen Orchesters peruanische Flötenmusik als Zwischenmusik gewählt, zu der die Schauspieler zu Anfang auf und am Ende von der Bühne tänzeln, zwischen den Szenen stehen beziehungsweise tanzen die Schauspieler dazu im Dunkeln. (Wie überhaupt diese ganz muntere Inszenierung an den Schnittstellen krankt: wenn es stürmt, geht das Licht aus und Wind fegt durchs Gebälk; anschließend geht das Licht wieder an, die Gesichter der Schauspieler tropfen von Nässe. Eins zu eins.) Karibisch ist an dieser Musik nichts, sie gibt dem Ganzen bloß einen humoristisch-folkloristischen Touch, den es nicht nötig gehabt hätte. Lieder (einstudiert von Stanley Walden) singen Matrose Sascha und Konsorten auch; neutönerische Kunstlieder, die im krassen Gegensatz zum Shanty-Ambiente stehen.
Auch die Fürstin, deren Schiff die verzweifelte Mannschaft entgegen Tristana Nunez' Rat entert, scheint von einer anderen Welt: sie fällt ihnen ganz von selbst (ein wohleinstudierter Sprung vom Balkon) in die Hände. Sie gurrt und spaziert wie ein Vogel herum, die Hände rudernd und nach hinten abgewinkelt, den Hintern keck herausgestreckt. Die Frau ist so verwirrend, die Dekadenz schlechthin: sie bittet die Piraten entzückt zum Frühstück.
Wer die Piraterei ernst nahm — Sascha und die Fürstin — ist am Ende tot; Tristana Nunez hat sie und sich aufgegeben. Ihr Offizier Hallwax reißt das Ruder an sich; die Piraten ohne Leidenschaft machen weiter: „mechanisch, unlustig, zerstreut — es wird gelingen“, heißt es zum Schluß. Das andere konnte ja nicht gehen. Und hatten die Pest an Bord.
Brut von Matthias Zschokke. Regie: Angelica Domröse. Bühne: Hans Ulrich Belaschk. Mit Katharina Waldau, Grit Reimer, Bettina Engelhardt, Michael Günther, Stephan Richter, Thomas Mathys, Nils Brück, André Zimmermann, Frank Buchwald. Studiotheater bat, Berlin, Belforter Straße. Nächste Aufführung: 29. Mai
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