Eingesperrt im Holiday Inn

Überwachen und Ausschließen: Über die Architektur der Angst, das Karnavaleske der Revolte und den Highway-Tod illegaler Einwanderer in Los Angeles  ■ Von Brigitte Werneburg

I.

Über Los Angeles wird üblicherweise in zwei großen rhetorischen Figuren gesprochen: Sunshine und Noir. Steht für die eine Seite Reyner Banhams Lobgesang auf die Popstadt Los Angeles, so steht für die andere Ridley Scotts Blade Runner, Los Angeles als Stadt, die die Zukunft verkörpert, die uns allen droht. Darauf nimmt der Titel von Mike Davis' Buch City of Quartz. Excavating the Future in Los Angeles Bezug. Es ist eine unerwartet zum Bestseller avancierte sardonische, exzellent recherchierte Sozialgeschichte Los Angeles' von seinen Anfängen bis heute.

Heute sieht die Zukunft in Los Angeles tatsächlich ziemlich düster aus, nachdem zuletzt der Himmel über Los Angeles schwarz war von den Brandschwaden, die aus den Neighbourhoods Inglewood und Compton aufstiegen; nachdem die Flugzeuge, die überlicherweise über diese Gemeinden nach LAX einfliegen, umgeleitet werden mußten. Los Angeles brannte, und wenn die Unruhen das Zeichen sein sollten, das, wie Mike Davis sagt, in der vierten Welt der amerikanischen Innenstädte Science-fiction Tatsache, Science- fact, geworden ist, dann sieht die Zukunft nicht schwarz aus. Denn, das Blade-Runner-Szenario betrachtend, fragt der Living-Colour-Gitarrist Vernon Reid, wo sind eigentlich die Schwarzen im Science-fiction abgeblieben?

Der skandalöse Freispruch von vier Polizisten des Los Angeles Police Department (LAPD) wegen ungerechtfertigter Brutalität im Fall Rodney King durch eine weiße Jury im Polizei-Ruhestandsvorort Simi Valley war eine unmißverständliche Botschaft an das schwarze Amerika, daß Rassismus in den weißen Vorstädten Tagesordnung bleibt. Dennoch waren die darauf folgenden Unruhen keine „Rassenunruhen“. Abgesehen von dem anfänglichen Herausgreifen und schlimmen Zusammenschlagen weißer Autofahrer durch schwarze Jugendliche, waren die darauf folgenden Plünderungen und Brandlegungen eine völlig gemischt-rassige Angelegenheit. Schwarz, Braun und Weiß zogen gemeinsam los, Kinder, Jugendliche, ganze Familien. Die Fernsehkommentatoren sprachen von einer „karnavalesken“, ausgelassenen Stimmung unter den Leuten. Wie richtig das immer sein mag, auffallend ist jedenfalls, daß die Menschen gegeneinander weder Ärger noch Angst zeigten. Irgendwie schien die Entscheidung in den Tagen der Plünderungen so gefallen zu sein, daß man sich nicht gegenseitig bekämpft, sondern die Umwelt, in der man lebt.

Das scheint ein Punkt zu sein, den man mehr bedenken sollte. Die Zerstörung von Geschäften symbolisiert das Scheitern des „american dream“ von mindestens zwei Minderheiten. Die Schwarzen gingen vor allem gegen die koreanischen Geschäfte vor, weil sie sich schlecht behandelt fühlten, im Sinne von „Gib die Kohle her und verpiß dich“. Die Koreaner stehen mehr oder minder ratlos vor ihrem zerstörten Lebenswerk und fragen sich, was sie falsch gemacht haben, wo sie sich doch exakt so verhielten, wie es ihnen ihrer Ansicht nach die amerikanische weiße Mittelklasse vorlebt.

Und das ist nicht unrichtig. Nicht nur koreanische Geschäftsleute haben einen Revolver hinter der Ladentheke und erschießen unter Umständen ein 15jähriges schwarzes Mädchen, das klaut, wie im Fall Latasha Harlins. (Daß die wegen Totschlags verurteilte Geschäftsfrau dennoch frei aus dem Gerichtssaal gehen konnte, rief schon vor dem Rodney- King-Urteil enorme Bitterkeit unter er schwarzen Gemeinde hervor.)

Es ist, so jedenfalls Mike Davis in City of Quartz, die Umwelt selbst, die gewissermaßen mit gezücktem Revolver dasteht. Frank O. Gehry, bei uns als sogenannt dekonstruktivistischer Architekt des Vitra-Stuhl- Museums in Weil am Rhein gefeiert, tritt bei Davis als „Dirty Harry“ einer Magnum-44er-Architektur auf. Davis sieht in Gehrys Stil ein Recyclingverfahren, das den heruntergekommenen städtischen Raum, den polarisierten Alltag und billige industrielle Materialien in eine elegante, formal interessante Poparchitektur transformiert. Dabei schert er sich nicht im geringsten um das Desaster, das er als ästhetischen Ausgangspunkt benutzt. Sein „Danziger Studio“, 1964 auf der damals völlig verkommenen Melrose Avenue in Hollywood gebaut, ist der Pionierbau aller L.A.-„Stealth“-Häuser, die ihren Luxus und Reichtum hinter einer proletarischen Gangster-Style- Fassade verstecken. Die Danziger- Straßenseite ist eine schlichte Wand mit einem sehr rauhen Verputz, der den Zweck hatte, den Dreck der Straße einzufangen, um das Haus möglichst schnell den umgebenden Porno-Schuppen und Garagen anzuverwandeln. Gehry zeigt, so Mike Davis, wie man hochkapitalisierte Eigentumswerte in eine zerfallende, von Armut bestimmte Umgebung einfügen kann, in der Grund und Boden billig sind. Formal ist es die nostalgische Feier eines revolutionären Konstruktivismus in der Ästhetik eines dekadent-bourgeoisen Minimalismus. Gehry, der immer sehr explizit war in seiner Suche nach einem Design, das „introvertiert und festungsartig“ ist, nach der eisern schweigenden, ausdruckslosen Schachtel, zeigt die Voraussetzungen des fragmentierten, paranoiden Stadtraums auf, der L.A. zunehmend charakterisiert: Überwachung, Ausschließung, Ausbeutung.

Nachdem die Ausgeschlossenen gewissermaßen hart an die Türe klopften und die Plünderungen und Brandschatzungen bis hoch nach Hollywood und hinunter ans Meer bis Long Beach trugen, zeigte sich auch Pritzker-Preisträger Gehry bei einer Veranstaltung am Montag nach dem Ende der Ausgangssperre nachdenklich und verunsichert. Im Verein mit Peter Eisenman hatte er noch vor kurzem in deutschen Medien über Los Angeles als Stadt der unbegrenzten (Architektur-)Möglichkeiten geschwärmt. Die jedoch allenthalben sichtbaren Grenzen (in) dieser Stadt, über die Mike Davis anläßlich einer öffentlichen Vortragsreihe des Getty Center of the History of Art and the Humanities im letzten Monat sprach, deuten auf eine ebenso fragwürdige wie instabile Pazifizierung von letztlich gewalttätigen Interessenkonkurrenzen hin. Und die vielgerühmte postmoderne Architektur scheint nur ein kaltes „form follows function“ durch ein noch kälteres „form follows fear“ zu ersetzen.

II.

In der berühmten, von der Chicago School of Sociology in den zwanziger Jahren für ihre stadtsoziologischen Untersuchungen entwickelten Methode des „mapping“ stellte Mike Davis Los Angeles als eine von der mediterranen Fruchtfliege, Kinderschändern, Gangstern und müßigen Passanten belagerte Stadt vor, gegen deren Tore zunehmend zudem die Flutwelle illegaler Einwanderer aus Mexiko und Mittelamerika anbrandet. Das in konzentrischen Ringen organisierte Modell eines Dings, genannt die nordamerikanische Stadt, zeigt Los Angeles' Belagerungszonen auf. Sie ergeben sich anhand der jeweils in den Stadtgebieten angebrachten Straßenschilder, Barrikaden, Kameraüberwachungen und Mauern. Pervertierte Zeichen der Zeit, wie die wahnwitzige Mutation eines aus Kindertagen vertrauten Verkehrsschilds am Interstate Highway 5 bei San Onofre. Aus einer erwachsenen Person, die ein Kind an der Hand über den Zebrastreifen führt, ist die gehetzte Familie geworden, die das Kind wild hinter sich herzerrt. Im Stil von „Achtung Wildwechsel“ warnt das riesige Schild auf acht Meilen vor Fußgängern auf der achtspurigen Schnellstraße. Ganze Familien illegaler Einwanderer, die nachts die Straße überqueren müssen, um der zweiten US-internen Grenze von etwa 80 Kontrollstationen zu entgehen, werden hier zusammengefahren. Die Zahl der tödlichen Unfälle ist so hoch, daß es in Los Angeles inzwischen eine große Selbsthilfegruppe für Autofahrer gibt, um ihr Trauma, einen Menschen totgefahren zu haben, aufzuarbeiten.

An allen Lampenpfosten der Stadt San Dimas im Bezirk L.A. County hängende Schilder weisen darauf hin, daß es sich hier um die erste „Child Molestation Exclusion Zone“ Kaliforniens handelt. Ob die Horden von Kinderschändern aus den nahegelegenen Hügeln davor gewarnt werden sollen, daß den Kinder zu ihrem Schutz Fingerabdrücke genommen wurden? Ausdruck eines Klimas des Mißtrauens, unbegründeter Verdächtigung und Angst gegen alles aus der Welt „draußen“. Ungeist der amerikanischen Vororte, die in jedem Außenstehenden den teuflischen Anderen, den gefährlichen Eindringling sehen.

In Annäherung an die Stadt kommt man in die Zone, die von der Chicago School als die klassische Arbeitervorstadt beschrieben wird. Heute ist es die Zone der „Neighborhood Watch“. Das soll nicht unbedingt heißen, daß die Nachbarn sich jetzt gegenseitig bespitzeln. Auch hier gilt die Wachsamkeit dem bösen Eindringling von außen, den Unterklassen-Kids vor allem, die als kriminell einzuordnen sind, wenn sie folgende Merkmale aufweisen: Sie tragen sehr teure High-tech-Tennisschuhe, und ihr T-Shirt ist immer sorgfältig gebügelt. So die Polizeiaufklärung bei einer Stadtteilversammlung in Echo Park.

Die Vorstädte der Einfamilienhäuser sind über die Methode der Arme-Leute-Nachbarschaftsüberwachung hinaus. Hier wird der Wohnbezirk eingezäunt und deindustrialisierte farbige Arbeiter, angestellt bei einem japanischen multinationalen Sicherheitskonzern wie West-tech, bewachen das Gebiet. Die gepflegten Rasen vor den Häusern werden entsprechend mit Warnschildern „bewaffnete Antwort“ bepflanzt. Von privater Polizei geschützte, umzäunte, mit Einfahrtstoren versehene Wohnbezirke waren zunächst eine Angelegenheit reicherer Siedlungen in den Hollywood Hills. Inzwischen gibt es nach Berichten der 'L.A. Times‘ in einer Art Virusinfektion 80 Anträge von Wohnsiedlungen in L.A., die ihre Straßen gegen den öffentlichen Verkehr absperren möchten. Die Seuche hat natürlich weder etwas mit der mediterranen Fruchtfliege zu tun, die durch Quarrantäneschilder angezeigt ist, noch mit realer Gefährdung, wie jede Kriminalstatistik zeigt. Grund sind die Immobilienpreise, die in den eingezäunten Gebieten um einiges höher liegen als in offenen Gebieten.

Wobei offenes Gebiet in Los Angelesen eine euphemistische Aussage ist. Vermeintlich öffentlicher Raum wie kleinere Parkanlagen und postmoderne Plazas in Downtown L.A. sind tatsächlich in privater Verfügung. Schilder weisen darauf hin, daß das Recht, sich hier aufzuhalten, jederzeit widerrufen werden kann. Wie Davis anmerkt, sagen sie nicht, daß die Shopping Malls und Plazas, die im Zuge des Wiedererstehens von Downtown Bunkerhill von kanadischen und japanischen Immobilienspekulanten errrichtet wurden, alle mit öffentlichen Geldern subventioniert wurden. Das Los Angeles Police Department, das mehr Leute in den städtischen Planungsbüros hat, als dort Architekten sitzen, sorgt dann dafür, daß das, was bei uns Bürgersteig genannt wird, von außen nach innen verlegt wurde. So gibt es in Downtown jede Menge Parkhäuser, die durch interne private sidewalks mit den Bürohochhäusern verbunden sind, wie etwa das Ronald Reagan Center. Immerhin, die Häme läßt nicht auf sich warten. Ein, zwei Blocks weiter, im schäbigen Bezirk um den Broadway herum, mit Bürgersteig (!), wird pro squarefeet das 100- bis 500fache dessen umgesetzt, was die Luxusfestungen erbringen. Die Eigentümer der nicht erdbebensicheren Häuser dürfen zwar die oberen Stockwerke nicht vermieten, aber das können sie sich mit einem kühlen Lächeln leisten. In „Bunker-Idyll“ stehen die oberen Stockwerke auch leer, allerdings aus dem gegenteiligen Grund.

An Downtown schließen unmittelbar die gänzlich verbarrikadierten Stadtbezirke der „Narcotics Enforcement Zones“ an. Kameraüberwachte, mit Mauern und Betonblocks abgeschlossene Straßenzüge, in die nur die Anwohner hinein können. Fast wie in Beverly Hills, sozusagen. Hier gibt es „Cruising“-verboten-Schilder. „Cruising“ betreibt man, wenn man innerhalb von sechs Stunden zweimal an der gleichen Stelle anzutreffen ist. In dieser Gegend von Downtown-East Los Angeles gleich neben Gehrys Schuppen des Museum of Temporary Contemporary Art steht das neuste der städtischen Gefängnisse. Ein marmorprunkendes Gebäude, eher ein Bank- Bürohaus-Gefängnis als ein Gefängnis-Gefängnis. Zwei neue Hochhaustürme mit 2.400 Betten sind geplant. Da die Gegend gleichzeitig Zentrum neuer Hotels und Bürohäuser werden soll, könnte es passieren, daß sich Touristen und eingekerkertes Höheres-Drogen-Management aus dem 22. Stock zuwinken werden. Welton Becket Associates' Metropolitan Detention Center mit seiner Hotel-Rezeptionslobby ist ganz in Pastellfarben gehalten, hat gitterfreie Fenster und nicht weniger als neun mit Nautilus-Kraftmaschinen bestückte Sport- und Erholungszentren. Einer der Eingesperrten flüsterte Mike Davis auf seiner Gefängnisbesichtigung zu: „Can you imagine the mindfunk of being locked up in a Holiday Inn?“

III.

Nach den Unruhen vor zwei Wochen befinden sich derzeit etwa 14.000 Verhaftete zusätzlich in den städtischen Gefängnissen. Ein Beispiel aus den Abendnachrichten: Ein bislang unbescholtener und, wie seine Kollegen sagen, hart arbeitender 20jähriger Latino wurde mit 110 T- Shirts erwischt, die er aus einem Laden schleppte und sieht sich jetzt mit einer Gefängnisstrafe zwischen sieben Monaten und drei Jahren konfrontiert. Eine 26jährige Frau, seit Jahren auf Sozialhilfe, die mit drei Sechser-Packungen Toilettenpapier aus einem zerstörten Laden kam, sagte zu einem Reporter: „Ich weiß, was du denkst, fuck you. Ich habe

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

meinen Arsch und den meiner Kinder mein Leben lang mit diesem kratzigen Mist abgewischt, weil ich mir den guten nicht leisten konnte. Jetzt habe ich Charmin, wie diese weiße Jury. So what.“

Das Gefühl, daß man sich selbst schädigt, wenn man Geschäfte anzündet und plündert, kann in einer verkommenen und vernachlässigten Umgebung unmöglich vorhanden sein. Die Geschäfte sind Fremdkörper, traurige Travestien freien amerikanischen Unternehmertums; sie sind schlecht bestückt, die Preise dennoch wesentlich höher als in den Luxusbunkern in der Westside. Da Banken in diesen Gegenden nicht vorhanden sind, lösen die Geschäfte Schecks ein und schlagen zehn Prozent Gebühr drauf, das heißt ein Wohlfahrtsscheck von 100 Dollar ist nur noch 90 Dollar wert.

Der Aufruhr war mehr eine Klassen- denn eine Rassenangelegenheit. Auf der untersten Ebene der polarisierten Stadt zeigt sich, daß Los Angeles sehr viel mehr rassenintegriert ist, als gemeinhin angenommen wird. Und so idiotisch es klingen mag, man kann die Wut der Leute um so besser verstehen, wenn man einmal in einem der „Stealth“-Häuser essen war. Im „Eureka“ von Wolfgang Puck etwa, dem anderen Österreicher-Import neben Arnold Schwarzenegger. Selbst wenn man gleich zu Anfang sagt, daß man in Ruhe essen möchte, sieht man sich am Ende gezwungen, seinen Teller festzuhalten, damit man den letzten Bissen gerade noch essen darf, bevor die Rechnung auch schon auf dem Tisch liegt. Es ist das gleiche „Kohle her und verpiß dich“, das gleiche „dis'in you“ (disrespecting you), nur zu etwas höheren Preisen. Und in der Küche arbeiten — wenn sie dürfen — die Latinos zu Hungerlöhnen. Apropos Latinos. Nachdem Präsident Bush die Sozialprogramme der sechziger Jahre als Ursache der Unruhen ausfindig machte, weiß Chief Commander Deryl Gates, in den letzten Tagen immer in vollem schwarzen Wichs — wie „Mussolini, der in Äthiopien einmarschiert“, schrieb 'L.A. Weekly‘ —, daß es vor allem die illegalen Einwanderer aus Mexiko und Mittelamerika waren, die plünderten und Brände legten. Am Dienstag, dem 5.Mai, wurden etwa 2.000 illegale Einwanderer wegen Verletzung der Ausgangssperre vom LAPD festgenommen und dem INS (Immigration and Naturilization Services) übergeben. Sie werden wahrscheinlich abgeschoben werden. Die ganze Aktion ist ein Bruch der bisherigen Stadt-Politik, die — zumindest offiziell — verbietet, daß zwei Institutionen sich zuarbeiten.

Mike Davis: City of Quartz. Excavating the Future in Los Angeles. Verso/New Left Books, London 1990, für etwa 70DM im deutschen Buchhandel erhältlich. Als Taschenbuch bei Vintage Books/ Random House, New York, 14Dollar.