: An unsichtbarer Angel
■ Ernst Barlachs »Der blaue Boll«
Was der Boll muß und was Boll soll, das weiß Boll eben selber nicht. Genau in diesem Spannungsfeld entwickelt sich Barlachs Sinnsucher-Drama, und der Inszenierung von Hans Lietzau gelingt es, das Stück vom Ballast der expressionistischen Spiritualität zu befreien. Die Tragödie der Existenz schlägt nicht etwa in eine Komödie um, wie das zum Beispiel Günter Krämers Inszenierung vom Armen Vetter vorführte. Lietzaus Formbewußtsein hängt einzig an der Sprache, und eben an derselben hängen auch die Figuren im Stück. Die Sätze sind Köder, die die Schauspieler während langer intensiver Probenarbeit hinunterschlucken mußten. Nun tanzen sie, mit wunderbaren Worten im Mund, an einer unsichtbaren Angel.
Der Marktplatz im Nebel, das ist eine Seelenlandschaft. Jürgen Roses Bühnenbild macht das auf eine unaufdringliche Art und Weise deutlich. Es zeigt die Stationen der inneren Entwicklung, die die Hauptperson nimmt. Wenn Claus Eberth als Gutsbesitzer Boll und Carla Hagen als dessen Frau Martha sich über einen zerklüfteten Boden wagen, der wie überdimensionales, aufgerissenes Straßenpflaster wirkt, oder wie Eisschollen, die aneinanderstoßen, brauchen sie gar nicht mehr stolpern, um zu zeigen, daß für dieses Paar das Fundament des gemeinsamen Lebens Schritt für Schritt brüchig wird.
Denn Boll ist sprichwörtlich bereit, vom Weg abzukommen, und in der jungen Grete Grüntal (Sibylle Canonika) begegnet ihm die zweifache Versuchung. Die schöne Schweinehirtin aus Parum will ihre eigene Aufzucht »aus dem Fleisch« befreien. Sie ist die Kindsmörderin auf der Suche nach Gift, und Boll verspricht, es ihr zu besorgen. Beihilfe zum Mord und Ehebruch stehen auf dem Spiel. Das Zimmer im Kirchturm, wo sie sich zum ersten Mal treffen, ist ein Raum, der in der Luft hängt, eben erst die halbe Höhe auf der Himmelsleiter. Die nächste Begegnung findet in der Hölle statt. Boll bringt die Ausbrecherin für eine Nacht beim Spelunkenwirt Elias unter. Hier bricht der Bühnenboden zu einem dunklen Kellergewölbe auf, in dem Teufel und Tote ihr Unwesen treiben. Doch ist dieser Abgrund wieder nur Station eines Irrwegs durch Güstrower Gäßchen, an dessen Ende Grete auf einer Kirchbank aufwacht. Im Inneren des Gotteshauses, auf ebenem Boden, liegt schlafend eine Heiligenfigur. Die Wogen haben sich geglättet, Grete und Boll sind durch ein Purgatorium gegangen. Am Ende kommt Sonne durch die Tür, Frau Martha erscheint.
Lietzaus Regie versucht, Wesentliches in wenigen, einfachen Linien auszusagen. Die Figurenzeichnung bleibt holzschnittartig, was zu der inneren Zerrissenheit der Menschen in starkem Kontrast steht. Die Aufführung entwickelt jedoch gerade über die Ruhe und die äußere Gefaßtheit der Figuren einen Sog, der den Zuschauer ganz in die Geschichte hineinzieht. Es wird auf alle seelischen Ausdrucksschnörkel verzichtet und nur auf die Kraft des Erzählens gesetzt — ein klarer, anachronistischer Zug. Simone Schneider
Heute und morgen um 19.30 Uhr, Freie Volksbühne, Schaperstr.
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