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Alleingänge im Rückwärtsgang

Ajax Amsterdam gewinnt mit einem 0:0 gegen den AC Turin den UEFA-Pokal/ Trotz einer dürftigen Leistung schaffen die Holländer als zweite Mannschaft nach Juventus Turin das europäische Triple  ■ Aus Amsterdam Henk Raijer

Er fehlte noch, der „kleine“, der dritte Pokal im europäischen Wettbewerb. Ajax Amsterdam hat unter Beweis gestellt, daß es auch ohne sein Monument Cruyff technisch und taktisch hervorragenden Fußball — zumindest über eine gesamte Saison gesehen — in Erfolge umzumünzen versteht. Dreimal (1971, 1972 und 1973) führte Hollands Großmeister des runden Leders die hauptstädtische Equipe als Spieler zum europäischen Landesmeistertitel; 1987, beim Gewinn des Europapokals der Pokalsieger, war derselbe Johan Cruyff — heute Technischer Direktor beim diesjährigen Landesmeisterfinalisten FC Barcelona — Trainer beim Amsterdamer Traditionsclub und der Mann, der mit Hilfe seines Instruments Ajax und seines Zöglings Marco van Basten Europa erstmals mit der Idee vom bedingungslosen Angriffsfußball vertraut machte. Gestern im Olympiastadion von Amsterdam, bei der zweiten Finalbegegnung um den UEFA-Pokal 1992, reichte Ajax nach dem 2:2- Hinspiel gegen den AC Turin ein 0:0, um die hauseigene Pokalvitrine um die noch fehlende Trophäe zu ergänzen.

Und es war nicht das Spiel einer Elf, die „tanzend über Europas Fußballfelder trabt“ — wie ein Kollege des italienischen Fernsehens vor Beginn der Begegnung formulierte. Ajax zauberte zwar, Linksaußen Bryan Roy spielte für die Galerie, entzückte zu Beginn der ersten Halbzeit die 42.000 mit artistischen Einlagen am Ball. Doch das spielte sich vor allem zwischen Strafraum und Eckfahne ab: Effizienz gleich null. Mit fabelhaft gefühlvollen Volleys wiesen auch John van't Schip und Aron Winter ihren Stürmern in dieser ersten Halbzeit wiederholt den Weg in die Tiefe des gegnerischen Strafraums. Aber solcherlei Pässe gingen meist ins Leere, denn ebendort fehlte der viruserkrankte Torjäger Dennis Bergkamp, der seiner Mannschaft mit sechs Treffern den Weg ins europäische Finale geebnet hatte. Ganze zwei Chancen konnte Ajax im ersten Durchgang herausspielen: Mittelstürmer Stefan Pettersson köpfte nach einem Eckstoß in der 23. Minute gefährlich, Turin- Verteidiger Fusi konnte auf der Linie spektakulär retten. Kaum eine Minute später zwang Roy mit einem Überraschungsschuß aufs rechte Eck Torhüter Marchegiani zu einer ersten Bewährungstat.

Ajax spielte ungewohnt zurückhaltend, krampfhaft bemüht, den eigenen Offensivdrang zu dosieren, um nicht so kurz vor dem programmierten Erfolg den komfortablen „Vorsprung“ aus dem Hinspiel noch auf's Spiel zu setzen. Schließlich war es ja auch die Elf von Trainer Emiliano Mondonico, die zum Angreifen verdammt war. Und das tat sie gezielt und nicht ohne Erfolg. Mit schnellem direktem Spiel überbrückten die Mannen um Enzo Scifo das Mittelfeld und hatten im Endeffekt die weitaus gefährlicheren Chancen. In der 27. Minute versetzte auf dem rechten Außenflügel Gianluigi Lentini Verteidiger Silooy und brachte Mittelstürmer Casagrande allein vor den Ajax-Torhüter; der Brasilianer, im sicheren Glauben, seinen siebten Treffer im laufenden UEFA-Turnier zu landen, köpfte den Ball außer Reichweite von Stanley Menzo gegen den linken Pfosten. Kurz zuvor war Ajax nur knapp einem Elfmeter entkommen, als Casagrande im Strafraum von seinem Gegenpart nur mit der Notbremse gestoppt werden konnte — was den wachsamen Augen des Unparteiischengespanns aus „Jugoslawien“ jedoch entging. Immer wieder drängten bei italienischen Kontern fünf, sechs Turin-Spieler steil in die Tiefe und zwangen die Ajax-Verteidigung zu halsbrecherischen Alleingängen im Rückwärtsgang. AC Turin, so zeigte sich von Anfang an, war nicht gewillt, dem Favoriten aus Amsterdam lediglich als Staffage für seinen Triumph zu dienen.

Auch nach der Pause konnten sich die Rotweißen aus Amsterdam nicht entscheiden zwischen Angriff und Verteidigung. Das Ergebnis war eine halbherzige Variante, die den Turinern die Möglichkeit eröffnete, Ajax auch ohne allzu hartes Spiel immer wieder in Verlegenheit zu bringen. Nur Ajax' letzter Mann, Kapitän Danny Blind, behielt die Übersicht. Er war es auch, der neben dem glänzend eingestellten van't Schip einen kühlen Kopf behielt, als sich das Spiel durch vereinzelte grobe Aktionen von beiden Seiten zu chaotisieren drohte. Stefan Pettersson wurde in der hektischen Endphase von Policano und Fusi derart in die Mangel genommen, daß er mit der Trage vom Platz getragen werden mußte. Es ist zweifelhaft, ob der Schwede in gut vier Wochen bei der EM in seiner Heimat dabeisein wird.

Zweimal noch hatte Turin in der Schlußphase die Chance, das Ruder zu seinen Gunsten umzureißen. In der 77. Minute prallte ein Schuß von Verteidiger Mussi, von Blind abgefälscht, vom rechten Außenpfosten ab. Nach der Herausnahme von Mittelfeldregisseur Scifo warf Turin die letzten Hemmungen ab und stürmte leidenschaftlich und ohne locker zu lassen. In der letzten Minute schließlich sprang ein halber Fallrückzieher vom Gianluca Sordo unerreichbar für Torhüter Menzo von der Latte zurück in den Strafraum.

Ajax' Sieg war hart erkämpft an diesem Abend. Fast hätte den hohen Favoriten am gestrigen Mittwoch dasselbe Schicksal ereilt wie schon im Pokalsieger-Finale von 1988, als Ajax gegen den belgischen Außenseiter KV Mechelen durch maßlose Überheblichkeit die Rechnung präsentiert bekam und 0:1 unterlag. Den 42.000 im Stadion schien die dürftige Darbietung ihrer Lieblinge egal zu sein; schließlich war der Sieg reine Formsache. Unaufhörlich schmetterte schon Stunden vor dem Spiel das „We are the Champions“ von Freddy Mercurys Queen über Straßen und Plätze der sommerlich- freundlichen Hauptstadt. Zu Zehntausenden hatten sich die Fans bereits vorormittags auf dem Rembrandtplein eingefunden. Die Siegerehrung auf dem Leidseplein war von der Polizeiführung lange vorher bis ins Detail geplant. Dem „historischen“ Sieg im Stadion folgte die nächtliche Apotheose auf dem Leidseplein. Amsterdam feierte sich und Hollands Fußball, obwohl nicht sehr überzeugend, und empfiehlt sich für die EM im nächsten Monat.

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