ARTESCHLEIFEN

Wenn das Einchecken länger als der Flug dauert. Einige Betrachtungen zum modernen Flugverkehr.

VONMALTEROEPER

„Bist du eigentlich sicher, daß es in Basel überhaupt einen Flughafen gibt?“ fragte Stephanie besorgt, „Ich kenne dort keinen.“ Das sollte mich interessieren, denn heute ist mein Flug. „Wozu“, entgegnete ich überheblich, „soll ich mich mit dem Wissen belasten, wo sich dieser lächerliche Flughafen befindet? Es gibt diesen Airport-Bus, der fährt vom Bahnhof Freiburg zum Flughafen Basel, fertig. Das reicht doch vollkommen.“ Jawohl. So reist der Weltmann.

Der Flughafen liegt natürlich irgendwo auf französischem Gebiet und heißt „Bale-Mulhouse“, aber das hätte man bei genauerem Hinsehen auch dem Ticket entnehmen können. Doch welche Rolle spielt das eigentlich noch, wenn ich von Stuttgart nach Bogotá fliegen kann oder von München nach Melbourne, wenn die Orte der Welt zu einem Becher Smarties auf dem Roulettetisch der Reisebüros werden? Der Bus nach Basel ist schneller und billiger als der Zug nach Frankfurt. Da kann der Basler Flughafen auch im Schwarzwald liegen, für den Reisenden bleibt da kaum ein Unterschied.

Umsteigen in Zürich. Das Einchecken dauerte länger als der Flug. Hundert Kilometer ein paar Minuten. Und jetzt das: Flug 848 nach Manchester ist „delayed“ — verspätet.

Ich habe Hunger. Außerdem will ich heute abend in Sheffield noch einen trinken. Vor allem aber der Hunger. Hätte ich mir ein paar Stullen schmieren sollen? Um Himmels willen, nein. Wäre das peinlich, hier zwischen all den Linienflugprofis in Trenchcoat und Nadelstreifen die Käsebrote auszuwickeln. Darf gar nicht dran denken. Dann lieber hungern.

Nächst dem Wartezimmer für Manchester die Ausgänge für Wartende nach Birmingham und Budapest. Dort sind die Schalter geöffnet. Offensichtlich ist auch der Wortschatz des Luftverkehrs nicht gefeit vor einer Inflation emphatischer Euphemismen: „We wish you a very pleasant flight“, werden die Hostessen nicht müde, jedem Passagier an Bord zu versichern, „und einen sehr angenehmen Aufenthalt.“ Aus irgendeinem Grund bin ich mir sicher, daß diese Floskeln früher um je vier Buchstaben kürzer waren.

Eine sehr auffällige Figur auf der Bank der Mannschaft nach Budapest ist jener 'Guardian‘ lesende Gentleman, der alles Weibliche unter vierzig mit der Begierde eines Auktionators taxiert. Die Lesebrille — sein Alter läßt auf Weitsichtigkeit schließen, Weitsicht wäre eine zweite Frage — ganz vorn auf der Nase, schon beinahe über Bord, bleibt der Kopf in Richtung „Politics“ gesenkt, um keine erkennbare Bewegung zu machen, wenn die Blicke auf die Jagd gehen. Doch mit dem Blick hebt sich die Stirn und wirft hundert Falten. Daß schöne Frauen auch mich bisweilen zum Wendehals machen, sollte ich nicht leugnen — es wäre gelogen —, aber dies gierige kleine Faltengebirge über dem 'Guardian‘ läßt mich das andere Geschlecht völlig vergessen. Einer im Budapester Mittelfeld fummelt im Köfferchen, und laut schnarrend springt ein Rasierer an. Total peinlich. Und alle haben's gemerkt.

Aufrufe ergehen an die Passagiere nach London, die jetzt zu einem anderen Ausgang müssen, sowie an Transitreisende von Madrid nach Helsinki und an diejenigen von Barcelona nach Peking. Nach Kairo kann man auch von hier, oder nach Linz. Oder nach Innsbruck. Die Welt ist ein Dorf, wer wollte es bezweifeln? Drei verschiedene Flüge nach England innerhalb einer Stunde, davon Manchester zweimal täglich.

Doch auch die routiniertesten Reisenden hätten ein gewöhnlicheres Gesicht aufgesetzt, wäre dies hier der Wartesaal im Hauptbahnhof Bielefeld. Fliegen war und bleibt etwas Spezielles — ist es auch für den Einzelnen eventuell noch so sehr Gewohnheit, so macht in diesem Falle umgekehrt die Gewohnheit den Passagier zu etwas Besonderem. Denn man fliegt eben nur, wenn entweder der Zielort weit entfernt ist oder besonders schnell erreicht werden soll, wenn einem die sieben Stunden im Intercity von Mailand nach München einfach zu lang sind. Entfernungen als reale räumliche Distanzen auf der gekrümmten Oberfläche unseres Planeten scheinen nicht mehr zu existieren in einer wohlhabenden Welt, wo Zeit viel knapper ist als Geld: Mailand-München, das sind nicht vierhundert Kilometer Alpenlandschaft, sondern, je nach Transportmittel, sieben oder eine Stunde beziehungsweise achtzig Mark oder fünfhundert bei einfacher Fahrt. Mit dem Pkw irgendwo dazwischen. Durch Basel mit dem Auto hätte zu dieser Uhrzeit länger gedauert als mit dem Flieger nach Zürich.

Als wir die Maschine endlich besteigen, werden die Reisenden von einem klugen Bordservice sofort mit Alkohol sediert. Kaum ist das Bierchen leer, wird nachgeschenkt. Das ist zuvorkommend, denn die berüchtigte Elf-Uhr-Sperrstunde im Mutterland des Fußballs werden wir kaum mehr schaffen.

Wiederholte Kondolationen bezüglich der Verspätung — „Hier spricht Ihr Kapitän“ — vermengen sich mit zahlreichen SehrherzlichwillkommenanBord und Wewishyouaverypleasantflight. Ready-for- take-off in zwanzig Minuten. Und in zehn Minuten. Und noch mal. Alles in drei Sprachen. Hier spricht Ihr Kapitän. Später: In zehn Minuten werden wir Paris überfliegen. „Hier spricht Ihr Kapitän“ — die Dauerwelle aus dem Bordlautsprecher.

Zwischen Gin und Abendessen werden entzückende kleine Pappschächtelchen gereicht, kaum größer als ein Stoß Patiencekarten. Das Design ist erstklassig und die Pastelltöne angenehm. Es könnten glatt Verlobungsringe drin sein. Es sind aber bloß Nüsse (neun Stück) und ein Dutzend Miniatursalzstangen. Ich habe noch nie eine so wundervolle Verpackung für so wenig — oder so viel? — Luft gesehen. Das ist schon Kunst, irgendwie.

Beim Rückflug zehn Tage später geht alles schief: Beide Starts und beide Landungen verspäten sich wegen starken Verkehrsaufkommens im europäischen Luftraum erheblich — es ist eben Samstag. In einer ausgedehnten Warteschleife für Zürich überfliegen wir Koblenz und haben Fernsicht. So ein Glück. Unten am Grenzübergang Basel/Autobahn sind zu diesem Zeitpunkt zwei Stunden Stau, während oben — „Hier spricht der Kapitän“ — gebeten wird, nicht vor all den anderen Flugzeugen zu erschrecken, die in geringem Abstand unsere Flugbahn kreuzen. Die warten auch alle auf Landeerlaubnis, sagt er. Der Anschlußflug nach Basel ist natürlich weg, in Basel schließlich ist mein Gepäck nicht mitgeflogen, und ich habe den letzten Bus des Nachmittags nach Freiburg verpaßt. Der nächste geht in drei Stunden.

Ich fahre per Anhalter, und das funktioniert sofort. Jawoll. So reist der Weltmann. Am nächsten Tag wird mein Rucksack per Taxi ins Haus geliefert. Immerhin. Das ist eben Swissair.