SCHWABEN IM WUNDERLAND
: Das (fast) perfekte Glück

■ Stuttgart feiert fassungslos erstaunt den VfB und dessen Fußballehrer Christoph Daum

Fritz Walter überlebensgroß! „Ich, ah, sich, also Deutscher Meister ... unn‘ Torschützenköpnig, also, ich bin...“ Ja, was? Sprachlos! Tränen schossen dem kleinen großen Mann aus Mannheim in die Äuglein, und er, der doch im tiefsten Dschungelgestrüpp eines Bundesligastrafraums furchtlos geblieben war, mußte kapitulieren vor den Tücken der Syntax und der Größe des Augenblicks. Der die Schwaben, Mannschaft wie Anhänger, umso heftiger berührte, da sie damit beim besten Willen nicht rechnen konnte. „Eigentlich“, so erzählte selbst der Vorzeigeschwabe Buchwald hernach, „haben wir doch nicht hundertprozentig daran geglaubt, daß wir es schaffen können.“

Erstens, weil die Chancen der anderen einfach besser gewesen waren, zweitens, weil man irgendwo im Hinterkopf zu wissen glaubte, daß man vielleicht doch nicht gut genug sei, und drittens, weil der VfB Stuttgart einfach keine Siegermannschaft ist/war und seine Anhänger längst zu Masochisten geworden sind, die gelernt hatten, daß auf kurze Phasen des Hochs ein umso tieferer Fall zu folgen pflegt. Nur einer hat davon nie etwas wissen wollen: Christoph Daum. Der erfolgsbesessene Schnauzbart hat seinen Männern Klasse eingeredet. „Wir haben einige Spieler, die kein anderer Verein hat,“ hat Daum gesagt, „diese Spieler sind auch in der Lage, Außergewöhnliches zu leisten.“ Doch diese Leistung herauszukitzeln muß die wahre Kunst gewesen sein. Guido Buchwald etwa vermutet: „Das hätte kein anderer Trainer aus der Mannschaft herausgeholt.“

Auch Sportschau-Onkel Faßbender hob den rheinischen Vorredner heraus. „Herzlichen Glückwunsch an alle Schwaben und besonders Christoph Daum.“ Selbst sein weitgehend entrückter ZDF- Kollege Kürten hatte irgendetwas mitbekommen und vermutete: „Das ist nicht nur die große Klappe, da steckt mehr dahinter!“ Harte Arbeit nämlich, wie so oft. Denn was der Bundestrainer Vogts „eiskalt- kalkulierend“ genannt hat, diese relative Ordnung auf dem Platz, das war Daums Werk und der Schlüssel zum Erfolg. „Wir haben zwar nicht spektakulär gespielt“, sagt der Co-Trainer Köstner, „aber der VfB ist heute die taktisch disziplinierteste Mannschaft der Liga.“ Früher war es eben genau andersherum, und das macht den Unterschied.

Und auch, wenn sie in Dortmund trotzig den Vize feierten, Stepanovic in Frankfurt grinste, als ginge ihn das Ganze herzlich wenig an, und Daum selbst das ganze Wochenende krampfhaft bemüht war, die Gescheiterten nicht auszugrenzen, da der Maßstab der ganzen Branche nun einmal die Tabelle ist, blieben sie doch immer nur Verlierer. Und die Stuttgarter Sieger. Rechtmäßig, wie die Tordifferenz eindeutig belegen konnte.

Also machten sich am Samstagabend schon gute Tausend nach Echterdingen zum Flughafen auf, um die neue Zeitrechnung einzuläuten, am Sonntag wurde dann in der Mercedesstraße zwischen Neckarstadion und Vereinsheim bis in die späte Nacht gefeiert. Und erzählt. Wie das war in Leverkusen, diese dramatischen Minuten. „Jeder hat gewußt, daß wir noch ein Tor machen müssen“, platzte es dann zum millionsten Mal aus Guidio Buchwald heraus. Woher? „Weil das ja an der Anzeigetafel gestanden hat.“ Ah, Gott sei dank! „Eigentlich kann ich es noch gar nicht fassen.“ Und Michael Frontzeck wiederholt sich: „Daß wir Meister geworden sind, haben wir zu 90 Prozent dem Trainer zu verdanken.“ Und Daum selbst: „Es ist eine Sache, die man gar nicht so nachvollziehen kann.“

Und dann muß der Wundermann erzählen, wie er in der Stunde des totalen Triumphes heulen mußte, und wir hören ihn sagen: „Ich bin noch nicht so weit, daß ich da cool drüber stehe.“ Jetzt mischt sich auch Maurizio Gaudino ein und erzählt jedem, der es wissen will, und das wollen alle: „Das ist der schönste Tag in meinem Leben.“ Und irgendwie schnappen wir auch noch auf, wie Fritz Walter völlig verklärt in jener Bescheidenheit, die wir so an ihm schätzen, relativiert: „Ein Torjäger lebt auch vom Mittelfeld!“ Und immer wieder sehen wir einen mit den Schultern zucken und im Tone tiefsten Bedauerns sagen: „Nur schade, daß die Kickers abgestiegen sind.“ Und wir wissen, daß kein Glück, so groß es auch sein mag, perfekt sein kann. Peter Unfried