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Papa ist auf Dienstreise

■ Heute abend werden in Cannes die Preise des 45. Internationalen Filmfestivals verliehen. Thierry Chervel zieht eine Festivalbilanz, berichtet über eine auffällige Tendenz und fragt nach der Funktion von Festivals

Vater war's! Kaum ist da mal eine Tochter, und sie hat gar einen Vater, wie Laura Palmer in David Lynchs Twin Peaks, bringt er sie um. Aber Laura Palmer ist eine doppelte Ausnahme in diesem Festival: erstens weil sie eine Tochter ist, und zweitens weil sie einen Vater hat. Die Tendenz in Cannes war eine ganz andere.

Zur „Tendenz“: Festivalberichte sind eine schwierige und, ehrlich gesagt, auch etwas lächerliche Gattung des Journalismus. Pflichtbewußt hat man sich dreißig oder vierzig Filme angesehen, und nun fassen Sie mal zusammen, was auseinanderfällt. Meistens hinterlassen Festivals nämlich nur den Eindruck eines kunterbunten Durcheinanders. Ideen, Ideologien, Welten krachen aufeinander. Ist ja auch gut so. Aufgeklärte Leserinnen wissen deshalb, daß „die Tendenz“ in Festivalberichten nur eine Hilfskonstruktion des Journalisten ist, eine Beschwörungsformel, die Krücke, an der er durch seinen Artikel hinkt. Das soll also die Tendenz sein. Dahin soll das Kino gehen.

Aber ich bestehe darauf. Hier gab es eine Tendenz, und zwar: Erstens ist man Sohn und zweitens ohne Vater. Geradezu obsessiv bildet die Absenz des Vaters in den Filmen dieses Festivals entweder die dramaturgische Ausgangsbasis, oder sie wird sogar ausdrücklich zum Thema — dann suchen die Söhne die Väter.

Mütter sind offensichtlich Randerscheinungen. Nur in zwei Filmen spielen Mütter eine Hauptrolle. In Bille Augusts Best Intentions wird nach einem Drehbuch von Ingmar Bergman die Geschichte von Bergmans Eltern erzählt. Die — werdende — Mutter ist ein gleich starker Gegenpart zum Vater. Die Beziehung ist konfliktreich — aber da ist noch Beziehung. In Terence Davies' Kindheitserinnerung The Long Day Closes, die in den fünfziger Jahren spielt, ist der Vater zwar gestorben, bildet aber kein Objekt der Sehnsucht. Die Mutter ist der ruhende Pol in einer Welt von dunkler Innerlichkeit, Schoß und Mitte, Harmonie und Gesang — für Zuschauer ist diese Idylle übrigens schwer erträglich.

Sonst spielen Mütter Nebenrollen oder kommen erst gar nicht vor. In El Viaje (Die Reise) des Argentiniers Fernando Solanas verläßt der Sohn die Mutter und den Stiefvater, um seinen wirklichenVater zu suchen. Dafür durchquert er den gesamten südamerikanischen Kontinent, von Ushuaiaia in Feuerland, der südlichsten Stadt der Welt, bis nach Mexiko. In Hal Hartleys Simple Men verabschieden sich zwei Brüder kurz von der Mutter und reisen nach Long Island, wo sie ihren Vater vermuten, einen ehemaligen Baseballspieler, der 1968 eine Bombe vors Pentagon gelegt haben soll und jetzt aus dem Gefängnis ausgebrochen ist. In Pavel Lungins Luna Park sucht der jugendliche Rechtsextremist Andrei seinen Vater — nicht seine Mutter, die er offensichtlich ebenfalls verloren hat — und findet den alten Juden Naoum.

Wo die Abwesenheit des Vaters nicht direkt zum Thema wird, ist sie Ausgangspunkt der Geschichte. Am Grab des Vaters verabschiedet sich Mathias in Arnaud Desplechins Lasentinelle von seiner Mutter, um nach Paris zu gehen und Gerichtsmedizin zu studieren. Ein Schrumpfschädel wird ihm zugespielt, den er im Lauf des Films untersucht. Es ist der Kopf eines sowjetischen Wissenschaftlers, wie er am Ende herausfindet, und an den Schleifspuren der Zahnbürste erkennt Mathias, daß der Tote Linkshänder gewesen sein muß. Raul Ruiz' Dark at Noon beginnt damit, daß Félicien die Nachricht vom Tode seines Vaters überbracht wird. In einer testamentarischen Verfügung schreibt ihm der Vater, daß er in ein entlegenes Dorf nach Portugal reisen soll, um sein Erbe anzutreten. Seltsame Dinge geschehen da. Hunde essen Menschenfleisch, Jungfrau Maria erscheint so häufig, daß niemand sie mehr beachtet, ein Priester wird lebendig begraben, ein Marquis platzt. In Jean- Claude Lauzons Léolo hat der Junge zwar einen Vater, lebt aber in der Gewißheit, daß der nicht sein wirklicher Vater ist. Sein wirklicher Vater ist ein Bauer in Sizilien, der in eine Tomate masturbiert hat. Die Tomate kam in Montreal auf den Markt. Léolos Mutter ist in die Tomatenkiste gefallen. Neun Monate später kommt Léolo zur Welt. In seinen Tagträumen flieht er nach Sizilien.

Wie von selbst führt das Thema des abwesenden Vaters zu dem der Reise — durch Außen- oder Innenwelten, in einen Totenschädel oder durch ganz Südamerika. Es ist ein Abdriften, ein Sich-verlieren. Am Ende steht meistens eine Selbstfindung, aber nicht immer: Ziellos streunt der fünfzehnjährige Valerka in Vitali Kanevskis Ein unabhängiges Leben durch Sibirien. Den Ausgang aus dem Gulag findet er nicht.

Wo es um den fehlenden Vater geht, geht es meist auch um eine Vakanz im Bereich der Macht, eine Verantwortung, von der der Vater abgedankt hat oder der er sich entzieht. Es ist ein politisches Thema und zugleich, wie Lungin in einem Interview mit der taz sagt, eine Rückkehr zum Mythos: „Ich glaube, daß wir in unserer postideologischen Ära, wo es weder die Linke noch die Rechte mehr gibt, in eine neue Kultur eintreten: Die Welt ist unverständlich. Aufgabe des Kinos ist es, nicht mehr zu illustrieren, sondern zu erklären, und der Mythos wird wieder zu einem wesentlichen Werkzeug. Luna Park definiert eine Mythologie der Nach-Perestroika: Aber der Sohn, der sich an die Stelle des Vaters setzt, der in den Krieg zieht, um den Vater zu töten, ist eine Erzählform, die in allen Mythologien vorkommt.“ (1)

Daß Lungin Andreis Vatersuche als einen lebensgefährlichen Konflikt darstellt und das mythologische Motiv zugleich ironisch bricht, macht Luna Park zum intelligentesten Film über das Thema. Am Ende stellt sich heraus, daß Naoum gar nicht Andreis Vater ist. Inzwischen aber haben sich die beiden in tumultuösen Peripetien zur gegenseitigen Anerkennung durchgerungen, um die es Lungin geht.

Die Reisen der vaterlosen Söhne werden zu politischen Parabeln auf den Zustand ihrer Vaterländer. Unangenehm direkt — bei allerdings teilweise berückenden Bildern — ist die Botschaft in Solanas' El viaje. Argentinien ist buchstäblich von Scheiße überflutet — zumindest da, wo es nicht an die Ausländer verkauft ist. Der Präsident — eine Karikatur auf Menem — behilft sich gegen den Sumpf mit Schwimmflossen. Solanas ruft in seinem Film die Lateinamerikaner zur Einigkeit gegen „den nordamerikanischen Imperialisten“ auf. Er selbst wird bei den nächsten argentinischen Wahlen für eine linksperronistische Fraktion als Senator kandidieren. Der Stiefvater muß weg, der wirkliche muß her.

Auch Gianni Amelios Il ladro di bambini handelt vom Vaterland — und ganz Italien ist zugestellt von Industrieruinen, ein Bau ohne Baugenehmigung. Ein Polizist begleitet in dem Film zwei Kinder den ganzen Stiefel runter ins sizilianische Kinderheim. Während der Reise freundet er sich mit den Kindern an, wird zu ihrem Ersatzvater. Aber gerade dadurch, daß er persönliche Verantwortung übernimmt, gerät er in Konflikt mit seinen Vorgesetzten, die ihm „Kinderdiebstahl“ vorwerfen.

Sohn sucht Vater: Daß sich so etwas als allgemeine Tendenz des Kinos präsentiert, spricht eigentlich weder fürs Kino noch für die Welt, die es reflektiert — selbst wenn wirklich sehenswerte Filme darunter sind. Auffällig ist ja nicht nur, daß Frauen in dieser Konstellation praktisch nicht vorkommen, sondern daß auch eine andere große Beziehung, die Liebe, in diesen Filmen offensichtlich keine Perspektive bietet. Nur in The Player, Robert Altmans Hollywoodfarce, James Ivorys Howard's End, eine Literaturverfilmung, Best Intentions nach Bergmans Drehbuch und Sidney Lumets A Stranger among Us spielen Liebesgeschichten herein. Bezeichnenderweise sind das aber eher Regisseure der Vätergeneration. Jüngere Regisseure wie Paul Verhoeven und David Lynch zeigen dagegen in Basic Instinct und Twin Peaks, daß sie sich für eine Erotik, die zwar vielleicht mit Heftigkeit und Leidenschaft, aber nicht unbedingt gleich mit Gewalt, Tod und Verderbnis verknüpft ist, offensichtlich nicht erwärmen können.

Mag sein, daß eine „Tendenz“ wie die Vatersuche der Söhne weniger über den Zustand des Kinos aussagt als über den Geschmack der Auswahlkommission des Festivals oder eben auch über die Befindlichkeit des Journalisten, der darüber schreibt. Schlecht wäre das nicht. Nur wo Auswahlkriterien spürbar sind, läßt sich eine Diskussion anfangen. Sonst steht eher das Festival selbst zur Diskussion. In Berlin herrschte vor drei Monaten ja nicht einmal der Eindruck des Durcheinanders, der sich wie gesagt recht häufig nach Festivals einstellt und an sich nicht beklagenswert ist, sondern der der Beliebigkeit. Übermächtigen Hollywoodproduktionen stand eine lieblose Reihe nichtamerikanischer Filme gegenüber. In Cannes fühlte man sich dagegen geradezu versucht, wieder an eine Dringlichkeit und Aktualität des Mediums Kino zu glauben, auch wenn man mit vielen Filmen nicht konform ging und ein wirkliches „Meisterwerk“ fehlte. Nur so kann ein Festival Einfluß auf den Gang der Dinge nehmen.

Noch in anderem Sinne war Cannes in diesem Jahr ein Ort der Diskussion: Emir Kusturica und Spike Lee gaben Pressekonferenzen über die Ereignisse in ihren Ländern, amerikanische und europäische Regisseure debattierten über „Kreativität und Industrie“, Wim Wenders hielt eine „Vorlesung über das Kino“. Auch so etwas kommt nur zustande, wenn ein Festival einen Begriff von Qualität hat. Sonst fühlten sich die Regisseure gar nicht angesprochen. Wenn die Berliner Verantwortlichen nur mal was draus lernen wollten.

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