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100 Jahre Gigawattomanie

Die Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke feiert ihren 100.Geburtstag/ Häuser ohne Steckdosen kennt die Branche nicht mehr/ Die Rechnung kommt in den nächsten 100 Jahren  ■ Von Wolfgang Zängl

München (taz) — Die deutschen Elektrizitätsversorger feiern Geburtstag. 100 Jahre alt wird die Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW); Anlaß genug für historische Reminiszenzen aus der Geschichte dieser Industrie. 100 Jahre VDEW, das sind hundert Jahre Elektrifizierung menschlicher Tätigkeiten, hundert Jahre Eroberung immer weiterer Gebiet des Zusammenlebens durch Strom und nicht zu vergessen, 100 Jahre Kampf der Stromgiganten gegen andere Energien.

100 Jahre Elektrifizierung bedeuten Stromversorgung: Der Begriff signalisiert familiäre Geborgenheit, Fürsorge. Doch schon die Semantik täuscht. Stromversorger betreiben das beinharte Geschäft der permanenten Mehrproduktion. Zwei bis drei Prozent steigt der Verbrauch in Deutschland jährlich — soviel wie ein großes neues AKW erzeugt.

Ein Gang durch hundert Jahre Stromgeschichte könnte bei den Tricks der Stromerzeuger anfangen, mit denen sie die letzten weißen Flecken auf der Strom-Landkarte erobert haben. Zum Beispiel die „Vollelektrifizierung“ von über 1.000 Musterdörfern in den 30er Jahren, um den Stromverbrauch auch auf dem Lande anzukurbeln. Oder das Jahr 1934, als die Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke (RWE) den „ersten schornsteinlosen Wohnblock“ einweihten: mit elektrischer Heizung.

Schon der Geschäftsbericht der RWE von 1903 kann als programmatische Schrift für die gigantische Verschwendung kommender Jahrzehnte gelten: „Zu den denkbar billigsten Preisen größtmögliche Strommengen zur Verfügung zu stellen“, hieß es dort.

Eine kleine Stromgeschichte könnte aber auch mit dem „Wirklichen Deutschen Elektrofrieden“ von 1929 beginnen. Damals steckten die Stromversorger ihre Gebietsgrenzen ab, in denen sie fürderhin als Monopolisten Geld schaufeln konnten.

Im königlich bayrischen München zapften Bürger und Fabrikanten 1913 gerade 14 Megawatt (MW) aus dem Stromnetz — achtzig Jahre später steht die bayrische Metropole mit 1.000 Megawatt unter Strom. Und noch 1968 konnte sich der Regierungsbezirk Niederbayern zu fast hundert Prozent aus Wasserkraft versorgen — heute steht dort die Atomruine Niederaichbach, und bald kommen noch zwei hinzu.

Und was machen die Stromer in der Gegenwart — in der Zeit nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl? „Könnten wir so viel Strom sparen, daß die Kernenergie überflüssig wird?“, fragten sie Ende 1986. Eine ketzerische Frage angesichts des Programms von 1903. Die Antwort war klar: Wir können nicht.

Strom wird in Deutschland zu 95 Prozent in Wärmekraftwerken erzeugt (Atom, Kohle, Gas, Öl). Hierbei gehen zwei Drittel der eingesetzten Primärenergie als Wärme verloren; dazu kommen Verluste bei Umwandlung, Transport und Verbrauch. Es gibt keine dümmere Verwendung von Energie, als erst Wasser aufzuheizen, um damit Strom zu erzeugen, der dann nach Hunderten Kilometern Leitungstransport in Nachtspeicheröfen wieder in Wärme zurückverwandelt wird. Der Wirkungsgrad liegt unter 20 Prozent. Vier Fünftel der Energie verpuffen.

Doch das Ziel der Stromkonzerne ist nicht der effektive Energieeinsatz, sondern der Verkauf ihrer Ware. Sie wollen das „allelektrische Haus“ mit Strom als einziger Energiequelle. Acht Prozent der Wohnungen in den alten Bundesländern werden mit Strom beheizt: Fast 40.000 MW installierte Nachtspeicheröfen verbrauchen 22 Milliarden Kilowatt pro Stunde im Jahr, das ist der doppelte Stromverbrauch Schleswig-Holsteins. Gleichzeitig sind 25 Prozent der gesamten in Deutschland eingesetzten Primärenergie Verluste bei der Stromerzeugung.

Auch in der Industrie haben die Elektrizitätsversorger die Stromverschwendung forciert. Durch gezielte Dumpingpreise wurden viele industrielle Eigenversorger zum Aufgeben gebracht, die vorher die vorhandene Abwärme ihrer Produktion zur Stromerzeugung genutzt haben. Allein die umweltschädigende Chlorchemie und die Aluminiumhütten verbrauchen jeweils zehn Milliarden Kilowattstunden pro Jahr. Kritik an der Praxis führte nicht zu Änderungen: Seit 1982 werden die Preise einfach geheimgehalten.

Allein 1990 wurden über 1,3 Millionen Elektroherde, 2,5 Millionen Geschirrspüler, je zwei Millionen Kühlschränke, Gefriergeräte, Waschmaschinen und Heißwasserbereiter, 900.000 Wäschetrockner und 300.000 Nachtspeicheröfen hergestellt, die alle Strom fressen. Wir werden gezielt zu menschlichen Stromabnehmern gemacht, zum homo electrus adaptus (Gerhard Polt) — mit mehr als 40 Geräten pro Haushalt.

Für die Stromerzeuger entwickelten sich so die Geschäfte glänzend. Sie leisteten sich in den letzten vier Jahren milliardenschwere Einkäufe in anderen Industriesparten — mit dem Geld der StromkundInnen. Die Kohlekraftwerke der BRD sind die größte Einzelquelle für CO2-Emissionen — mit 250 Millionen Tonnen jährlich. Die Stromkonzerne verbrauchen 70 Prozent des Trinkwassers der alten Bundesländer zur Kühlung. Sie haben die größten Löcher für Braunkohle-Tagebau gegraben und vertreiben gerade wieder 10.000 Menschen in Nordrhein-Westfalen aus ihrer Heimat.

Wer so groß ist, braucht staatliche Förderung. Von 1956 bis 1986 wurden über 33 Milliarden DM Steuergelder in die Atomenergie gepumpt (für erneuerbare Energien fielen gerade zwei Milliarden ab). Welch unglaubliche Verschwendung von Geld, Arbeit, Intelligenz, Rohstoffen und nicht zuletzt Energie da getrieben wird, zeigt anschaulich die winzige Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe, die einmal 200 Millionen DM Baukosten verursacht hat und deren Stillegung und „Entsorgung“ das Zehnfache, nämlich zwei Milliarden DM kosten (und 12 bis 14 Jahre dauern) wird. 20 große Reaktoren warten in Deutschland auf den Abriß, und die Stromkunden werden zahlen müssen: Das ergäbe umgerechnet eine Summe von 1.000 Milliarden DM, dazu das nicht lösbare Problem des Atommülls.

Und weil der bisherige Stromverbrauch den Stromerzeugern immer noch nicht reicht, treten sie zum 100sten mit einem un-heimlichen Geburtstagswunsch an die Öffentlichkeit: Liebe Stromkunden, kauft endlich Elektroautos! Es hat einen Wirkungsgrad unter 20 Prozent, hat mit Solarstrom so viel zu tun wie ein Atomkraftwerk mit Windenergie und schafft als Zweit- oder Drittfahrzeug zusätzlichen Verkehr.

Das Elektroauto soll „das mit Abstand stromintensivste Gerät im Haushalt“ werden — mit 1.000 bis 2.000 kWh (der Vorstandsvorsitzende Energieversorgung Schwaben 1991) und würde den Verbrauch der Haushalte um 50 Prozent erhöhen.

Durch das Monopol auf ihr Produkt ist diese Industriesparte die einzige, in der die KundInnen die Fehlinvestitionen zu bezahlen haben. Deshalb baut man weiter Größtkraftwerke, setzt auf Gigawattomanie und träumt vom Großstromreich — einem Stromverbund von Gibraltar bis Wladiwostok. Die Altindustrie Stromerzeugung blockiert bessere technische Lösungen und gedeiht heute auf Kosten der Zukunft unseres Planeten. Zum zweihundertsten Jubiläum wird es deshalb wohl nicht mehr kommen.

Zängl ist Ökonom und Autor von Deutschlands Strom — Die Politik der Elektrifizierung von 1866 bis heute.

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