: Genug ist nicht weniger genug
Benno Besson inszeniert nach fünfzehn Jahren erstmals wieder in Berlin. „Hase Hase“ von Coline Serreau ist ein schrilles Stück über eine schrille Familie ■ Von Sabine Seifert
Vor drei, vier Jahren kam in Frankreich der Film Das Leben ist ein langer ruhiger Fluß in die Kinos, er wurde ein Kassenschlager. Eine Familiengeschichte, an der, genauer gesagt, zwei Familien beteiligt waren; zwei nach der Geburt vertauschte Jungs, die nach Jahren der Wahrheit auf die Spur kommen und einmal ihre „richtige“ Familie ausprobieren wollen. Die eine ist natürlich reich und die andere arm; da Frankreich nach wie vor eine wahre Klassengesellschaft ist, funktioniert die Gegenüberstellung und Überspitzung der stereotypen Verhaltensweisen der französischen bourgeoisie und des Subproletariats der Pariser Vorstädte hervorragend. Die Sympathien des Films liegen bei der schrillen Prolofamilie, die dick und gefräßig, rosig und rosafarben, laut und hektisch durchs Leben kommt. Irgendwie läuft's eben doch.
Um eine solch schrille Familie geht es auch im Stück der Französin Coline Serreau. Auch ihre Familie trägt einige klassische Merkmale der französischen classe ouvrière, zumindest auf dem Kopfe: die Minipli- Löckchen, bis zur Unkenntlichkeit ausgedünnt. Sitzt in einer engen Dachwohnung von der Größe, die bei uns unter „Wohnklo“ firmiert, redet in einem fort von Lohn- und Preiserhöhungen, und alles dreht sich ums Essen. Die Familie, ein Organismus ohne Katastrophenschutz: der Vater arbeitslos; die Jüngste und Cleverste vom Gymnasium geflogen; der Älteste, angeblich studiert er Medizin, hat sich einer terroristischen Organisation angeschlossen. Drei von fünf Kindern waren bereits aus dem Haus und stehen unvermutet wieder vor der Tür: Marie wollte ihrem Mann nicht länger das Salzfaß reichen; Lucie floh die Trauung schon in der Kirche; und Jeannot, angeblich bei der EG in Brüssel beschäftigt, schmuggelt falsche Papiere und muß sich vor der Polizei verstecken. Eng wird's in der kleinen Wohnung, immer enger.
Lapin lapin heißt das Stück im französischen Original. Mit Hase Hase wurde der Titel ins Deutsche übersetzt, doch eigentlich müßte es heißen „Kaninchen“ oder „Karnickel“. Denn nur die vermehren sich so rasant wie die Mitglieder der Familie Hase (die bald noch über sich selbst hinauswachsen wird) in der pinkfarbenen Küche auf der Bühne des Berliner Schiller-Theaters. Dort hat der aus der französischen Schweiz stammende Benno Besson nach fünfzehnjähriger Abwesenheit aus Berlin das Stück von Coline Serreau in Szene gesetzt. Und endlich wieder einmal hat das Haus den so lang ersehnten Applaus, eine wahre Applausarie erlebt, wie sie sonst nur an Premierenabenden zu Ehren Katharina Thalbachs vorkommt, deren Inszenierungen von Macbeth und Minna von Barnhelm die einzigen Glanzlichter des Hauses der letzten zwei Spielzeiten unter der Führungsriege Lang/ Kirchner waren. Auch Katharina Thalbach — mein Name sei Hase, ich weiß von nichts — hat das Komödiantentum im Blut, ihr Vater heißt Benno Besson. Und so ist die Inszenierung von Hase Hase im Grunde ein Familienunternehmen: denn die Autorin des Stückes, Coline Serreau, hierzulande bekannt als Regisseurin der Filme Pourquoi pas? und Drei Männer und ein Baby, ist die neue Lebensgefährtin des Regisseurs.
Katharina Thalbach verkörpert die Titelfigur. Da schon die Familie Hase heißt, das Gör aber bereits mit zwei Hasenzähnen auf die Welt gekommen ist, heißt es auch mit Vornamen so: Hase Hase hat kurze rote Haare und sieht aus wie ein Lausbub. In seiner Freizeit liest er Science-fiction-Romane, denn er selbst ist ein Außerirdischer mit Mission, wie er dem Publikum in einer schwachen Stunde gesteht. Die zentrale Figur des Stücks und — der Familie natürlich — ist Mama Hase: Ursula Karusseit, mit dicken Kummerspeckschichten auf dem Leib; ihre Augen blitzen immer noch dunkel und glutäugig aus dem leicht aufgeschwemmten Gesicht. Mama Hase ist dank der hinreißenden Schauspielkunst von Ursula Karusseit eine eindeutig positive Figur, auch wenn sie durchaus (in meinen Augen anstößige und) zweischneidige Züge trägt: das Mama-Prinzip als das Prinzip der ewigen Aufopferung. Aber wenn sie an die Rampe tritt und sich mit einem der Monologe, die den Erzählfluß des Stückes immer wieder ins Epische wenden, ans Publikum wendet, dann holt sie sich ihre Streicheleinheiten zurück. Fünf Sekunden zusammengeweint — das hat gut getan, sagt sie.
Die ollen Männer
Benno Besson, Jahrgang 1922, hat lange lange Jahre in Berlin gearbeitet: einem bestimmten Berlin, Hauptstadt der DDR. 1949 ging er zu Bertolt Brecht ans Berliner Ensemble, das er 1958 nach dessen Tod wieder verließ. Er blieb in Berlin, inszenierte am Deutschen Theater (unter anderem seine berühmte Stalin-Parodie in Jewgenij Schwarz' Märchen Der Drache), war von 1969 bis 1974 künstlerischer Leiter, von 1974 bis 1978 gar Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, wo er sein Konzept eines „politischen Volkstheaters“ gegen den wachsenden Unmut der Kulturbürokratie in die Tat umzusetzen versuchte. (1978 ging er nach Frankreich und kehrte dann in die Schweiz zurück, wo er eine Zeit lang die Genfer Comédie leitete.)
Besson ist beim Burlesken geblieben; Hase Hase bietet Kitsch mit Schnauze, ist manchmal herb und traurig, vor allem aber heiter-versöhnlich, dann wieder laut und komisch, mal Salonkomödie, die der Einfachheit halber in der Küche stattfindet, mal Boulevardkomödie, die visionär-futuristisch in die Milchstraße katapultiert wird. Man sieht, was Besson bei Brecht gelernt hat; er spielt mit den inszenatorischen Mitteln der eigenen Vergangenheit, leichtsinnig, mit dem jugendlichem Eifer der Umkehrung behaftet. Das liest sich dann folgendermaßen:
„Der Sozialismus, so wie er war, war die letzte große Hoffnung einer patriarchalischen Gesellschaft, und die Patriarchen haben prompt versagt.“ Ernst Schumacher, dem Uraltkritiker der 'Berliner Zeitung‘, dem gegenüber sich Besson in einem Interview so geäußert hat, müssen die Ohren geklingelt haben. Der Mann war bereits im Amt, als Besson an der Volksbühne wirbelte. Etwas skurril mag es ja scheinen, wenn der heute 70jährige Besson, der in diesem Interview (andere wollte er nicht geben) unter anderem von der wunderbaren Asozialität seines jüngsten Kindes, einem Säugling, berichtet, über das „patriarchalische Weltbild im Sozialismus“ plaudert. Aber hat er deshalb unrecht?
Auch Hase Hase nimmt eine feministische Wende. Und den Weg ins Boulevardtheater, von Besson allerdings kunstvoll aufgefangen. Die Balance des ersten Teils — die schrille Komödie von der immer zahlreicher werdenden Familie und ihren immer größer werdenden Problemen, unterbrochen von den herzzerreißenden Monologen einzelner Familienmitglieder, die ihre geheimsten Wünsche dem Publikum zu Füßen legen oder, wie Hase Hase, ihr Geheimnis als Außerirdische offenbaren und damit jenen komisch- futuristischen Touch ins Spiel bringen —, also der Wechsel zwischen geschlossener Komödie und klischiertem Antitheater bricht auf zugunsten (oder zuungunsten) einer Kriminalfarce und ebenso irreal anmutenden Handlung.
Draußen explodiert eine Bombe. Hase Hase entschwindet ins All, und Bert, der Umstürzler, verschwindet im Gefängis, denn die Soldaten im „Haus der Streitmächte der neuen Ordnung“ haben die Regierung übernommen. Eine Entführung wird mit allen Mitteln der Slapstickkomödie geplant und verpatzt — der reitende Bote des Königs erscheint, Hase Hase als deus ex machina, der alle Soldaten in Mädchen verzaubert. Die sind ja bekanntlich friedliebender.
So platt und plötzlich die Wendung vom Himmel fällt, so unvermutet öffnet sich wiederum die Bühne zu einem dunklen und schwermütigen Himmelspanorama, dessen Weite mit der Enge der Wohnküche vorher kontrastiert. Verschiedene Haushaltsgegenstände baumeln an dünnen Fäden in diesem Kosmos, einem unbestimmt bleibenden Raum, der Mama Hase träumen und seufzen macht, ihr die letzten Worte gönnt und sie dann in einer leichtfüßigenen valse entschwinden sieht.
„Eine heile und heillose Familie“, meinte Benno Besson in besagtem Interview. Hier wird er noch einmal geträumt, der Wunsch nach der heilen Welt, die kein Unheil bedeutet, weil sie eben nie heilt. Lebenskunst und Theaterkunst liegen tatsächlich dicht beieinander. Es gibt viel zu tun.
Coline Serreau: Hase Hase. Regie: Benno Besson. Bühne: Ezio Toffolutti. Mit Ursula Karusseit, Christian Grashof, Guntbert Warns, Sabine Orleans, Markus Völlenklee, Katharina Thalbach, Friederike Wagner, Michael Maertens u.a. Schiller-Theater Berlin. Nächste Aufführungen: 26.Mai, 3., 6., 8. und 15.Juni.
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