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Das Wahnsinnsteil des Verrückten

Mit einer todesmutigen Aktion holte sich Andreas Wecker bei der Turn-Europameisterschaft die Goldmedaille am Reck, der überragende Vitali Scherbo gewann am Boden und beim Sprung  ■ Aus Budapest Thomas Schreyer

„Nur ein Verrückter macht so etwas zweimal!“ Der neue Europameister am Reck, Andreas Wecker, ist erleichtert. Der Turner aus Berlin rennt nicht mit winkenden Händen durch die Halle, dem Sportpalast in Budapest. Andreas Wecker atmet nur auf. Im Seitpferd-Finale hatte der 22jährige die sichere Goldmedaille „fallen lassen“. Er stieg einfach ab, ging nach der Übung aus der Halle und „wollte nichts mehr sehen“.

Freilich kam Wecker wieder zurück. Daß er sie als Goldmedaillist wieder verlassen würde — zudem, wo er doch „etwas ganz Verücktes“ gemacht hatte —, damit rechnete er selbst nicht. Während Wecker sich nach der mißglückten Seitpferdübung draußen wieder „sammeln“ mußte, hatte sich Ralf Büchner eine Bronzemedaille am Boden gesichert. Büchner, ein ganz ruhiger Mann, turnte seine Übungen konsequent durch und zeigte jetzt schon, daß mit ihm in Hinblick auf Barcelona fest zu rechnen ist. Beinahe hätte er eine zweite Medaille am Pferdsprung bekommen, doch mit sechs Tausendstel setzte sich der Ungar Supola durch. Sechs Tausendstel — eine Meßeinheit, die es im Turnen eben nur rein rechnerisch gibt. Beabsichtigt war dies sicher nicht, die Kampfrichter hatten wohl nicht aufgepaßt: ein undankbarer vierter Platz für den Hannoveraner.

Letzter Turner am letzten Gerät war Andreas Wecker. Das Publikum ging mit seinen Schwüngen mit, machte die Riesenfelgen im Geiste nach. Wecker wurde schneller und schneller und hob an zum ersten Flugteil, einem in der Fachwelt sogenannten „Kovacs“, bei dem man die Reckstange erst wieder sieht, wenn man sie schon in der Hand hat. Ein „Wahnsinnsteil“, sagen manche Turner dazu. Denn der Athlet fliegt rücklings über die Stange und kann sie so nicht sehen.

Wecker flog, und Wecker hing — aber wie! Es war keine „Notlandung“, „aber ich hatte plötzlich nichts mehr gespürt, mein Bein war fast wie gelähmt“, erklärte Wecker. Weckers „Kovacs“ kam nämlich zu dicht an die Stange, dadurch kam er aus dem Schwung, mußte sich sogar hochstemmen, wenn auch nur kurz. „Ich dachte schon, es sei aus“, kommentierte Wecker die Schreck-Hundertstel-Sekunde. „Nach so einem Ding macht man einfach kein zweites Flugteil“, schüttelt der Berliner den Kopf. „Aber ich bin so verrückt und setze nochmal zum Kovacs an!“ Und der zweite gelang. Der Abgang war nicht ganz einwandfrei, aber er reichte für 9,837 Punkte. Und es reichte für die Goldmedaille.

Rustam Sharipov aus der Ukraine hatte die gleiche Punktzahl. Sharipov war Erster in der Reihenfolge und turnte fast makellos. Doch verdient war auch Weckers Medaille trotz der zwei kleinen Fehlerchen. Wer eine solche gefährliche Situation meistert, ist einfach Meister. Zudem mußten sich Sharipov und Wecker die Goldmedaille gar nicht teilen: Jeder von ihnen bekam eine ganze.

Die Deutschen waren damit zufrieden und damit auch ihr neuer Bundestrainer Franz Heinlein, der erst vor zwei Wochen zu seinem Amt berufen worden war. Er hatte Klaus Mildbrandt aus der alten DDR abgelöst, dessen Co-Trainer er seit dem Zusammenschluß von Ost und West war. Heinlein war damals schon der Cheftrainerposten angeboten worden. Er hatte ihn aber abgelehnt, weil er sich selbst für zu unbekannt auf der internationalen Turn-Bühne hielt. Jetzt sprang er ein und genießt nun einen guten Einstand. Paradox, doch denkt man in der Turnwelt bei „Deutschland“ noch an die BRD in ihren Grenzen vor der Expansion, und da gab sie ein ganz schlechtes Bild ab bei der letzten EM vor zwei Jahren in Lausanne. Das Bild sollte geändert werden, und es wurde geändert.

Sorgen in umgekehrter Richtung haben die „GUSsen“, die in Budapest als einzelne Länder auftraten. Zwar trainieren alle noch bis Barcelona gemeinsam in Moskau. „Aber es war schon ein angenehmes Gefühl, für das eigene Land zu starten“, fand Igor Korobchinsky. Für den Mehrkampf-Europameister wehte die Fahne der Ukraine. Nein, er war nicht der erste Sieger aus der Ukraine, aber der erste, der unter diesem Namen eine Medaille ergattern konnte. Ukrainer, Weißrussen und Russen brachten schon ihre eigenen Trainer mit auf das Podium. Doch die haben Angst, daß sich die „imperialistische Grundtendenz“ der Russen nicht nur in der Politik zeigt, sondern auch im Sport: Es sei eine Absicht zu spüren, die guten Turner aus den ehemaligen Sowjetrepubliken abzuziehen und nach Moskau zu „locken“, zu zentralisieren und/oder ein- bzw. abzukaufen, so daß die Trainer der (bislang vom „überlegenen“ Westen ignorierten Länder) den „TagX“ ungeduldig herbeisehnen: „Hoffentlich wird das GUS-Team bald aufgelöst, damit wir unsere Teams bilden können, bevor uns Rußland ausgesaugt hat.“

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