Brasilien, der Gastgeber des UN-Gipfels, ist ratlos

Zwei Wochen vor Beginn der Umweltkonferenz in Rio de Janeiro hat die Regierung keine Strategie, wie mit den eigenen Problemen umzugehen ist/ Regierungsunabhängige Organisationen stellen auf alternativem Gipfel zahlreiche Projekte vor  ■ Aus Rio Astrid Prange

Die Einkaufsliste ist lang. Brasilien braucht den Transfer von Umwelttechnologie, Recyclingmethoden sowie Programme zum Sparen und Speichern von Energie. Doch zwei Wochen vor dem Beginn der UNO- Umweltkonferenz (UNCED) in Rio de Janeiro fehlt der brasilianischen Regierung noch jede Strategie. „Als Gastgeberland ist uns der Erfolg der Konferenz wichtiger als die Verteidigung unserer nationalen Interessen“, meint Minister Carlos Garcia, verantwortlich für die Organisation des Mammutereignisses.

Den Vertretern der regierungsunabhängigen Organisationen (NGO) ist der vermeintliche Großmut Brasiliens ein Dorn im Auge. Für sie geht es bei dem Umweltgipfel darum, die Weichen im Nord-Süd-Gefälle neu zu stellen.

Umweltverschmutzung, Naturzerstörung, Armut

Brasilien macht sowohl die industrielle Umweltverschmutzung als auch die Zerstörung der Natur durch die Armut großer Teile seiner Bevölkerung zu schaffen. „In Brasilien spiegeln sich die Umweltsünden der ganzen Welt wider. Wir sind deshalb an allen Themen interessiert, die auf der Konferenz behandelt werden“, rechtfertigt Carlos Garcia die Haltung der brasilianischen Regierung. Auch für den Umweltexperten Fabio Feldman ist es unmöglich, auf Anhieb das größte Umweltproblem seines Landes zu benennen. Die unzureichende Kanalisation von Abwässern sei genauso schädlich für die Natur wie die Rodung der Küsten — oder Regenwälder, meint der Abgeordnete. Die anhaltende Zerstörung des Regenwaldes in Brasilien — rund 20.000 Quadratkilometer werden jährlich von den Flammen aufgefressen oder fallen der Motorsäge zum Opfer — ist nicht in erster Linie auf die Holzindustrie, Rinderzucht, Straßenbau, Stauseen oder den Abbau von Rohstoffen zurückzuführen. Die extreme Konzentration von Großgrundbesitz ist weitaus umweltschädigender. Zur Veranschaulichung: 570.000 Quadratkilometer der rund 3,3 Millionen Quadratkilometer landwirtschaftlicher Nutzfläche Brasiliens befinden sich in der Hand von gerade 500 Personen. Sieben Millionen Menschen gehören nach Angaben des brasilianischen Statistikamtes zum Heer der landlosen Bauern.

Im täglichen Überlebenskampf bleiben dem landlosen Tagelöhner nur zwei Möglichkeiten: Entweder er findet einen Unterschlupf im Elendsviertel der überquellenden Großstädte, oder er versucht sein Glück als Kleinbauer oder Goldgräber in der Amazonasregion.

Die Folgen sind verheerend: Der Goldrausch der Habenichtse hat die wichtigsten Zuflüsse des Amazonas, Rio Tapajos, Tocantins, Urariquera und Mucajai, mit Quecksilber verseucht. Die Goldgräber fielen in die Reservate der Indianer ein und verursachten durch die Übertragung von Krankheiten wie Malaria und Grippe ein regelrechtes Stammessterben. Ihre geheimen Landepisten schlugen Schneisen in den Urwald, und die Goldwäscherei in den Flüssen mit Hilfe von elektrischen Pumpen verwandelte das grüne Waldmeer in eine öde Kraterlandschaft.

Die Kleinbauern wiederum, von der brasilianischen Regierung in den 70er Jahren mit dem Versprechen auf ein Stück Land in den Urwald gelockt, hielten es nicht lange auf ihrer Scholle aus. Spätestens nach fünf Jahren, wenn der nährstoffarme Boden ausgelaugt war, zogen sie weiter und besetzten ein neues Grundstück im Niemandsland. „Der Amazonas wurde als Ventil benutzt, um eine Agrarreform im Süden des Landes zu vermeiden“, kritisiert der anläßlich der UNCED von der brasilianischen Regierung herausgegebene Umweltbericht mit dem Titel „Die Herausforderung des umweltverträglichen Wachstums“. Der Export sozialer Krisen in den Urwald sowie der gleichzeitige Import von Rohstoffen wie Eisenerz, Zinn, Bauxit und Gold aus dem Amazonasgebiet in den industrialisierten Süden des Landes habe jedoch nicht das extreme Gefälle zwischen Armut und Reichtum innerhalb des Landes verringert.

Trotz dieser Erkenntnisse kommt die von Brasiliens Präsident Fernando Collor de Mello angekündigte Agrarreform nicht so recht in Gang: Die Versorgung von rund 500.000 Familien mit einer Parzelle Land bis zum Jahr 1994 steht zwei Jahre nach seinem Regierungsantritt noch in den Sternen. Auch die 240.000 brasilianischen Indianer müssen sich noch gedulden: Zwar verpflichtet die neue Verfassung von 1988 die Regierung bis einschließlich 1993, alle Indianerreservate festzulegen, doch bis jetzt ist erst die Hälfte der 544 Gebiete vermessen und abgesteckt.

Urwaldzerstörung und Eigentumsverhältnisse

Die Streichung von Subventionen, mit denen einst Investoren in die „grüne Hölle“ gelockt wurden, um das Gebiet zu erschließen, verlief ebenfalls halbherzig. Die Viehzuchtprojekte werden nicht mehr steuerlich begünstigt, doch noch immer liegen die Grundstückssteuern für bewaldete Flächen höher als für gerodete Erde.

Genau diese Kluft zwischen Theorie und Praxis wollen die regierungsunabhängigen Organisationen überwinden. „Wir werden genau das tun, wozu die Regierungen anscheinend nicht in der Lage sind, nämlich Verträge unterschreiben“, erklärt Muriel Saragoussi, Vertreterin der brasilianischen NGOs, die mit rund 1.500 Organisationen die Hälfte der Teilnehmer des globalen Forums ausmachen. Zu dem alternativen Umweltgipfel, der 40 Kilometer von der UNO-Konferenz im Flamengo- Park abläuft, werden rund 15.000 Gäste erwartet.

Zu den geplanten Verträgen gehören unter anderem die Vereinbarung über die Gründung einer alternativen Weltbank, die als Finanzinstrument für den Transfer sauberer Technologien dienen soll. Der Vorschlag, der von der philippinischen NGO „Green Forum“ stammt, sieht vor, daß nur diejenigen Organisationen unterschreiben, die auch in der Lage sind, das Projekt mitzutragen. Jean- Pierre Leroy, Vorsitzender der brasilianischen NGOs, bringt die Sache auf den Punkt: „Wir brauchen ein Gegengewicht zu den internationalen Organisationen wie Gatt und dem Weltwährungsfonds. Umweltpolitik darf nicht ausschließlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrieben werden.“

Das Mißtrauen der Umweltschützer gegenüber UNO-Unterhändlern und Regierungsvertretern ist immens. Schon jetzt steht fest, daß die NGOs eine internationale Agentur gründen werden, die darüber wachen soll, ob die während des UNO- Gipfels getroffenen Vereinbarungen auch in die Tat umgesetzt werden. Es geht dabei insbesondere um die Erfüllung der Richtlinien des Rahmenprogramms namens „Agenda 21“, eines der voraussichtlichen Abschlußdokumente der UNCED. Das Programm besteht aus 140 Umweltprojekten, die in einem Zeitraum von sieben Jahren weltweit umgesetzt werden sollen. Kostenpunkt: 600 Milliarden Dollar.

Der Eifer der brasilianischen NGOs, zu denen nicht nur Umweltschützer, sondern auch Gewerkschaften, Kirchen, Frauengruppen, Unternehmer und Indianer gehören, erklärt sich jedoch nicht nur durch die Sehnsucht nach einer gerechteren Weltordnung. Das Bewußtsein, das es in Brasilien trotz Umweltzerstörung ein enormes Potential an ökologischer Vielfalt und Naturschönheiten zu verteidigen gilt, hat sich in den letzten Jahren immer stärker verbreitet. Das brasilianische Wochenmagazin 'Veja‘ beschreibt die vorherrschende Stimmung mit einem Schuß freundlicher Ironie: „Auch im Bereich Umwelt bleibt Brasilien das Land der Zukunft.“