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Siechtum

■ General Ideas Aids-Kommentar „Fin de Siècle“: Abschiednehmen im Stuttgarter Kunstverein

Draußen vor der Tür steht General Ideas graffitibesetzter skulpturaler Aids-Schriftzug, welcher — gestaltet in Abwandlung der Live(Story)-Typographie — sich inzwischen als Markenzeichen des Immuneffekts durchgesetzt hat. Im zentralen Kuppelraum des Württembergischen Kunstvereins liegen fünf sarggroße Kunststoff-Pillen auf dem Boden (One day of AZT), während an der Wand drumherum 1.825 halbplastische Kapseln — arrangiert im Stil der puristischen Minimal Art — den Jahresbedarf des Anti-Aids-Medikaments AZT veranschaulichen. Im letzten Raum richteten General Idea eine kitischige Eislandschaft aus unzähligen Styroporplatten auf, in der verloren drei ausgestopfte Seehunde ausharren: General Ideas Leidensweg durch den Kunstverein ins Aus.

Fin de Siècle — so der Name der trostlosen Rauminstallation und zugleich Überschrift der bis Ende 1993 dauernden Retrotournee — steht ganz offensichtlich nicht nur für das Ende des 20.Jahrhunderts. Das konzeptuelle Promo-Foto, welches auf Katalog, Plakat und als Gemälde im Foyer der Ausstellung auftaucht, zeigt das Trio im Arztkittel, während sie sich gegenseitig die Herztöne abhören. Seitdem die vormals heterogene Künstlergruppe General Idea sich zu einer dreifaltigen Formation konsolidierte, findet man die Gesichter von AA Bronson, Felix Partz und Jorge Zontal in unterschiedlichsten Selbststilisierungen auf Leinwand wieder. Das neueste, pillengekrönte Mediziner-Bild ist extrem retouchiert; in Wirklichkeit wirkt ein Mitglied von einer Krankheit tief gezeichnet. Das Ende des Zeitalters und der Künstlergruppe General Idea fallen womöglich zusammen.

Die Rückschau in Stuttgart zeigt den inneren Verfall einer Konzeption, welche noch bis weit in die achtziger Jahre hinein Maßstäbe in puncto Ausstellungsdesign, Löschung der Autorenschaft bei programmatischer Selbststilisierung und Virtuosität in der Wahl der eingespannten Mittel gesetzt hatte. Eine ihrer Arbeitshypothesen manifestiert sich als The 1984 Miss General Idea Pavillion, welcher ab 1974 als Präsentationsgebäude geplant, jedoch schon drei Jahre später und somit lange vor der „angestrebten“ Eröffnung wie ein Steinbruch der Ideen ausgeschlachtet wurde. Es folgte die Resteverwertung in Form einer Mischung aus Fake-Archäologie und Inventur; unter dem Eindruck eines Pompeji-Besuchs und des dortigen Katastrophen-Merchandising entwickelten sie eine Folge von Vermarktungsstrategien. Seitdem tauchen Sektionen der Anlage — etwa eine Bar samt Videoprogramm, die Zeitschrift 'File‘, ein gutsortierter Souvenirstand mit wappenartigen Aufnähern oder der Fallout Shelter mit einer Notration Campbell's-Suppendosen — als vor den Flammen gerettetes Inventar (wieder) auf.

Obgleich General Idea für ihre Präsentationen konventionelle Ausstellungsorte nutzen, hielten sie an ihrer fixen Idee eines eher an Verkaufsstand, Industriemesse, Archivsystem oder Expo orientierten Pavillons fest. Noch das 1987 angelaufene Aids-Logo-Projekt suchte fern eingefahrener Repräsentationsformen sein Publikum per Anschlag an Bauzäunen, U-Bahnen und Lichttafeln, als Briefmarke, Magazinseite, Schaufensterdekoration oder Skulptur im Außenraum. In Form von ausstellungsgerechten Gemälden oder Tapeten wie derzeit in Stuttgart verliert sich allerdings der an smarter Werbeästhetik orientierte Schriftzug zum Dekor ohne Substanz. So wie die seriell angeordneten AZT-Pillen reduzieren sich auch die restlichen Objekte im Kunstverein auf ihren formalen Gehalt. Bei der hunderte Quadratmeter bedeckenden Styroporplatten-Installation drängt sich allenfalls noch die Frage nach ihrer „Entsorgung“ auf.

General Idea haben ihren Vorsprung an Jugendlichkeit, den sie weit länger als andere ihres Jahrgangs aufrecht hielten und an nachkommende Kollegen vorbildhaft vermitteln konnten, aufgebraucht. „AZT wirkt, indem es als falscher Baustein in die Erbanlage des Virus eingebaut wird. Die befallene Wirtszelle kann daraufhin keine neuen Viren mehr produzieren“, informiert eine Broschüre der Deutschen Aids- Hilfe, welche bezeichnenderweise im zugigen Foyer des Kunstvereins ausliegt, während in den repräsentativen Vitrinen des Aids-Raums statt projektbezogener Information ausschließlich Selbstdarstellung betrieben wird. Die Werkgruppen überschreitende Retrospektive lenkt so den Blick nicht wie sonst bei General Idea üblich auf einzelne — gezielt auf die Örtlichkeit abgestimmte — Projekte, sondern auf deren künstlerische Ausformung. Mit „falschen Bausteinen“ bestückt wäre die „Wirtszelle“ Kunstverein als Multiplikator nutzbar; General Idea mischt sich jedoch nicht mehr in die Aids-Diskussion ein.Jochen Becker

Fin de Siècle. Bis zum 14.Juni in Stuttgart. Nach Barcelona und vor der Nordamerika-Tournee macht die Retrospektive vom 27.November 1992 bis zum 3.Januar 1993 Halt im Hamburger Kunstverein. Als Ergänzung ist dort zur Zeit die Gruppenschau Gegendarstellung — Ethik und Ästhetik im Zeitalter von Aids angesetzt: 15.Mai bis 21.Juni.

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