piwik no script img

Mit freier Rede gegen den blauen Dunst

■ Gründungsveranstaltung der »Anonymen Raucher« im Selbsthilfezentrum Neukölln/ Angelehnt ist die Gruppe an das Modell der »Anonymen Alkoholiker«/ Die einzige Verpflichtung der TeilnehmerInnen: regelmäßiges Erscheinen/ Das Publikum ist bunt gemischt

Berlin. Es beginnt in einer winkligen Ecke im Schulhof und endet meist erst im Krankenhaus nach striktem Verbot durch den Chefarzt. Das Rauchen ist anfänglich das Initiationsritual für den Eintritt ins Erwachsenenalter, später gesellschaftlich akzeptiert und zuletzt ein Laster, das sein Opfer im Würgegriff hält: man möchte aufhören, aber die Sucht ist stärker. Ein Patentrezept behauptet Dr. med. Dieter Paun aus Ost-Berlin gefunden zu haben, der seit über 20 Jahren im Städtischen Krankenhaus Friedrichshain erfolgreich Selbsthilfegruppen für Rauchentwöhnungswillige leitete. Angelehnt an das Modell der »Anonymen Alkoholiker« aus den USA hat er am Dienstag im Neuköllner Kontakt- und Selbsthilfezentrum in der Hertzbergstraße den Grundstein für eine anonyme Rauchergruppe gelegt. Rund 30 Teilnehmer und eine auffallende Präsenz der Medien kunden von einem starken gesellschaftlichen Bedürfnis für derartige Initiativen. Einzige Verpflichtung der Teilnehmer, die in diesem Pilotprojekt vorerst kostenlos partizipieren dürfen, ist das regelmäßige Erscheinen. Allein das Sprechen über das Laster soll den einzelnen so weit bringen, daß er das Rauchen unterläßt. »Genießen Sie das Rauchen, und legen Sie sich vorher keinen Termin zum Aufhören fest«, lautet die antiautoritäre Faustregel des Arztes, der mit seinem Äußeren sämtliche westlichen Klischees über unsere östlichen Mitbürger zu bedienen versteht: eine dickglasige Kassenbrille prangt über dem graumelierten Vollbart der hochaufgeschossenen und hageren Gestalt, unter den Hochwasserhosen zeigen sich Ringelsocken aus Frottee. »Nennen Sie mich doch einfach Dieter«, wirft der amerikageschulte Exsozialist (diverse Studienreisen führten ihn schon zu Vorwendezeiten ins sonnige Kalifornien) im sächselnden Nasal in die Runde. Keine Frage, der Herr Doktor ist ein Faktotum, aber er weiß, wovon er spricht. Bei regelmäßigem Erscheinen prognostiziert er seinen Zuhörern eine 99prozentige Erfolgsgarantie. Und die sind jetzt mit dem Sprechen an der Reihe: warum sie aufhören wollen und ob sie es schon mal versucht hätten, sind die ersten Fragen an die Runde. Das Publikum ist bunt gemischt. Vor allem wegen ihrem Kind will Susanne den blauen Dunst sein lassen. Während Schwangerschaft und Stillzeit hat sie das schon mal ohne größere Probleme bewältigt. »Ich schaffe das nur für Stunden, dann ist der Ehekrach da«, sagt dagegen die Kettenraucherin Birgit, die sich den Zigarettenkonsum nur noch in ihrer Küche erlaubt. Allgemeine Bewunderung und Erstaunen erntet ein ungefähr 50jähriger Herr, der seinen Verbrauch auf zehn Glimmstengel pro Tag zu reduzieren schaffte, laut Dr.Paun eine schier undurchführbare Disziplinübung. Auch Umsteigen auf sanftere Sorten ist Selbstbetrug, weil der Konsum dann im allgemeinen steigt »Für R1 könnte ich Daumen lutschen«, der wohlbeleibte Kneipier mit Berliner Schnauze weiß, wovon er spricht. »Ich bin ein Suchtbolzen durch und durch«, meint Joachim, der schon Erfahrungen bei den Anonymen Alkoholikern gesammelt hat und dem Doktor mit Kritik an der Gesprächsführung immer wieder ins Handwerk pfuschen will. »Sie können jederzeit die Leitung der Runde übernehmen«, kontert der aus der therapeutischen Trickkiste. Als ein besserwisserischer Intellektueller dem Doktor konzeptionelle Ziellosigkeit vorwirft, hält ihm die Gruppe die Stange und bezichtigt den Schlaumeier der Destruktivität. Wem also schon lange der Ekel vor den Glimmstengeln in der Kehle würgt und dennoch immer wieder zugreifen muß, sei ein Besuch in der Hertzbergstraße ans Herz gelegt. Jantje Hannover

Kontakt- und Selbsthilfezentrum Neukölln, Hertzbergstraße 22, Di. 17.30 Uhr und Mo./Mi. selbe Zeit in der Hertzbergstraße 7.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen