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SOMNAMBOULEVARD — MULTIPACK-FINALE Von Micky Remann

Bevor wir zum Fußball kommen, folgende Klarstellung im Klartraum: Wir haben die Suche nach einer Wahrheit durch das Finden vieler Somnamboulwahrheiten ersetzt. So ist das hier. Im Traum wollen wir die vielköpfige Hydra unseres Gehirns nicht unter Abschlachtung ihrer mannigfachen Module auf eine einzige Schrumpfbirnenfunktion zurückstutzen, nur weil der monotone Wachwirklichkeitswahn dies fordert, um trotzdem jede Nacht an seinem masochistischen Anspruch zu scheitern.

Nein, wir denken nichts Schlechtes dabei, wenn Du im Konfirmationskleid (Realität 1) an einer 4*100-m-Staffel (Realität 2) durch ein holländisches Grachtenboot (Realität 3) teilnimmst oder noch viel weiter entfernte Ereignisfelder zu einem feingliedrigen Mischmasch verschmelzen läßt.

Freudig dürfen wir nun registrieren, daß die somnambule Denkungsart zunehmend auch auf den Wachzustand abfärbt. Der Beweis: Seit dem Finaltag der Fußballbundesliga ist die Parallelverarbeitung von chaosdynamischen Dissipativstrukturen, einst ein so rares wie kostbares Privileg unserer Gilde, voll massenpopulär geworden. Wir haben die Sache hier sehr aufmerksam verfolgt, erstens, weil Eintracht Frankfurt von vornherein angetreten war, um die Liga in einen luziden Bewußtseinszustand zu kicken (Stichwort Traumfußball), und zweitens, weil das Dreiecksringen zwischen sechs Teams in Rostock, Duisburg und Leverkusen mit all seinen kybernetisch vernetzten Emotions- und Energiewirbeln sowieso nur verarbeiten konnte, wer sich in eine hochkomplexe Multitasking-Trance begab, die sonst der Rapid-Eye-Movement- Phase des Traumschlafs vorbehalten ist.

Selten hat ein einziger Samstag so erfolgreich für Theorie und Praxis von Rückkopplungsschlaufen nichtlinearer Turbulenzen geworben wie der letzte. Selten auch war Fußball-Live-Hören so intelligenzfördernd wie bei diesem Meisterschafts-Rhizom, wo Ursache und Wirkung zu selbstorganisierten Phantomen namens „Wirsache und Urkung“ umgewidmet wurden. Holographisches Dribbeln und Dröseln waren kein Luxus, sondern Notwendigkeit. Keiner der 66 Spieler in diesem Quantensystem kommunizierender Röhren konnte den Ball treten, ohne sich in einer telekinetischen Interaktionszone mit den Parallelspielen zu wissen. Keiner der Fans konnte dem geistig folgen, ohne dabei brachliegende Gehirnteile zu reaktivieren. Prompt orientierte sich der Beifallspegel — unter löblicher Gleichbehandlung von Realspace und Cyberspace — am Prinzip der nonlokalen Echtzeit-Halluzination. Wer hier weinte oder jubelte, bezog sich selten auf das sichtbare Ortsspiel, dafür um so mehr auf das virtuelle Simultanmatch von da oder auch von dort. Und siehe, wer erst einmal auf dieser Sepp Herbergerschen Unschärferelation durchs Multipack- Finale surfte, tat es gerne. Achtung DFB: Der Fußballbetrieb ohne mehrdimensionale Synchronizitäten kann wegen somnambuler Unterforderung ab sofort eingestellt werden.

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