: »Modellprojekt« ohne Kompetenz
■ Bezirke vor der Kommunalwahl: Weißensee wird zwar mit einem Modellprojekt für eine bürgernahe und effektive Verwaltung beglückt, klagt aber über die geringen Kompetenzen
Weißensee. Grün ist der Bezirk. Diesen Eindruck gewinnt, wer an den richtigen Stellen durch den nordöstlichen Berliner Bezirk spaziert. Der Weiße See — Namensgeber des Stadtteils — und der Faule See sind da, etliche Kleingartenanlagen, und wer noch nicht über den Jüdischen Friedhof gegangen ist, der hat etwas verpaßt: die Möglichkeit, sich inmitten der Dreieinhalb-Millionen-Stadt von Lärm und Hektik zu lösen und für Stunden durch andächtige Ruhe zu schlendern.
Freilich gibt es auch in Weißensee Anlässe genug, zu flüchten: vor dem unerträglichen Verkehr, der den Bezirk zur Rush-hour entlang der Berliner Allee in zwei Hälften schneidet. Die vormals nach dem tschechischen Stalinisten Clemens Gottwald benannte Hauptverkehrsader ist eines der Hauptprobleme in Weißensee. Sie belastet Umwelt und Mensch aufs schwerste. Beinahe alle Luftverschmutzung ausmachenden chemischen Verbindungen — sei es Kohlenmonoxyd, Kohlendioxyd oder Ozon — reichen an die Grenzwerte heran, die dem Menschen nach EG- Normen nicht dauerhaft zumutbar sind. Bei der »kurzen extremen Belastung« mit Schwefeldioxyd überschreiten die an der Berliner Allee in Spitzenzeiten gemessenen Werte gar um 100 Prozent die EG-Linie.
Das berichtete Weißensees Umweltstadtrat Klaus Hämmerling (SPD) in der letzten Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung (BVV). Der 1989 von der Initiative für Frieden und Menschenrechte zur SPD gekommene Stadtrat antwortete dabei auf eine große Anfrage der PDS, und wie selbstverständlich kamen ihm die Schlußfolgerungen, »insbesondere zum Schutz der Bürger von Weißensee« über die Lippen: Man müßte das Wirtschaftswachstum einfrieren, sagte Hämmerling, so wie es der 91er-Bericht des Club of Rome empfehle. Allzu verdutzte Gesichter bei seinen Koalitionskollegen von SPD und CDU klärte Hämmerling schnell wieder auf: Das seien alles Dinge, »auf die der Bezirk keinen Einfluß hat«.
Da dürfte seine Frau, Claudia Hämmerling, anderer Meinung sein. Die 37jährige ist die Spitzenkandidatin des Bündnis 90, und sie sorgte mit zwei Anträgen in der letzten BVV- Sitzung für Wirbel: zum einen versuchte sie Mittel im Haushalt für den Ausbau eines »für Berlin einzigartigen« Biotops bereitzustellen, der »Naturschutzstation« am Faulen See. Doch die 500.000 Mark waren der BVV zu teuer; der Antrag wurde »in die Ausschüsse verwiesen«. Mit ihrem anderen Antrag hatte Claudia Hämmerling Erfolg. Per namentlicher Abstimmung faßte die BVV den »Bebauungsplanbeschluß«, die Weißenseer Kleingartenanlagen als Dauerkleingärten auszuweisen. Damit artikulierte das Bezirksparlament »den politischen Willen« — wie sich die Bezirksverordnete des Bündnis 90 ausdrückte —, die einzigen Wohnmöglichkeiten vieler Kleingärtner sichern zu wollen. Ob der Beschluß vor den Augen der Senatsverwaltung Bestand haben wird, ist allerdings eine andere Frage.
Die 23. und letzte BVV-Tagung war eine von den Wahlen geprägte Veranstaltung. Zwei Dutzend großer und mündlicher Anfragen mußten die Bezirksstadträte beantworten. Das Bezirksparlament nahm jene Kompetenz ernst, die seine wichtigste ist: die Kontrolle der Exekutive. Als Legislativorgan ist es nicht so weit her, weil das Parlament unter Kuratel des Berliner Senats und des Abgeordnetenhauses steht. Ein Faktum, das die demokratischen VertreterInnen des Bezirks auch in ihrer letzten Sitzung immer wieder beklagten. Manch einer der in der DDR Großgewordenen hat sich die kommunale Demokratie in der BRD demokratischer vorgestellt.
»Den Rahmen dieser Demokratie zu erweitern« reklamiert Martin Dressel als ein Anliegen der PDS. Der promovierte Spitzenkandidat der wohl immer noch mitgliederstärksten Weißenseer Partei (rund 600) bemängelt, daß die BVV zu wenig legislative Rechte habe. Sein Ziel wäre es, das Bezirksparlament zu »einem wirklich demokratischen Organ zu machen«. Die Situation der PDS beschrieb er als Ausnahmefall. In der BVV hätte sich eine »fast kameradschaftliche Zusammenarbeit« mit den anderen Fraktionen entwickelt, nachdem man zu Beginn sehr kritisch beobachtet worden wäre. Der Spitzenmann der CDU ist Horst Hartramph. Er leitete das Wirtschafts- und Finanzressort des Bezirks und setzt entsprechende Akzente bei seinen programmatischen Äußerungen vor der Wahl. Weißensee hätte die höchste Quote bei den Existenzgründungen pro Kopf aufzuweisen; das wäre Anlaß für Zuversicht. Hartramph ist es wichtig, daß »auch unsere ‘Ost-Produkte‚ Absatzchancen behalten«. Dazu wäre flankierende Tätigkeit von seiten der öffentlichen Hand nötig.
Die mangelnde Finanzhoheit des Bezirks kritisiert Bürgermeister Gert Schilling, der die Sozialdemokraten im (Wahl-)Kampf um Stimmen und Sitze anführt. Als das wichtigste Problem sieht er die bauliche Expansion im Weißenseer Norden, in Karow und Blankenburg. Man müßte versuchen, »diese Entwicklung zu strukturieren«; andere schlechte Beispiele schnell wachsender Trabantenstädte gebe es genug. Der 47jährige Diplom-Ingenieur für Elektronik setzt dagegen auf die »Weißenseer Mischung«: Leben und Arbeiten möglichst am gleichen Ort. Schilling bedauerte es, daß die Menschen seit der Wende in der DDR »irgendwo haltlos« geworden wären. Es wäre daher wichtig, daß die Polizei »sichtbar« wäre — »als Freund und Helfer«, wie er anfügte, denn er würde keinen Polizeistaat wollen.
Der Bebauungsdruck auf die Freiflächen zwischen Weißensee und Karow/Blankenburg; der pulsierende Verkehr der ins Berliner Zentrum gerichteten Pendlerströme aus und nach Bernau; der für die DDR seit der Währungsunion zu beobachtende Trend der Deindustrialisierung: das sind die Problemlagen der Weißenseer Kommunalpolitik. Wenn man dem Innensenator glauben darf, dann besitzt Weißensee ein exklusives Instrument, um diese Probleme verwaltungsmäßig besser angehen zu können: den Pilotversuch »Modellbezirksamt«. Ziel dessen ist mehr Bürgernähe, Effizienz und Schnelligkeit in der Berliner Verwaltung. Erreicht werden soll es mit dem Einsatz moderner Informationstechnik und »betriebswirtschaftlicher Steuerungsinstrumente«, so eine Pressemitteilung des Innensenats vergangene Woche, als Dieter Heckelmann dem Modellprojekt seinen Besuch abstattete. Heckelmann will die Berliner Verwaltungseinheit durch eine Reform der Verwaltung herstellen, sagte er in Weißensee — im bestem Honeckerdeutsch: »Der an das Reformprojekt Modellbezirksamt anzulegende Maßstab ist dabei beständig an der von uns gemeinsam erarbeiteten Zielsetzung zu messen: nämlich die Durchführung notwendiger Strukturverbesserungen und Maßnahmen in ganz Berlin zum Zwecke der Schaffung einer Verwaltung...« usw.
Arnold Krause (Bündnis 90/ Grüne) konstatierte aus dem Abgeordnetenhaus knapp den tatsächlichen Stand des Modellbezirksamts: die Rechentechnik fehle ebenso wie ein Zwischenbericht der eingesetzten Projektgruppe, der Datenschutzbeauftragte sei nicht in die Projektierung miteinbezogen. Sollte das stimmen, dann wird in Weißensee momentan nicht die »gläserne Verwaltung«, sondern der gläserne Bürger installiert. Christian Füller
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