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Kein Unterricht in Zelten und Zügen

■ Anstieg der Schülerzahlen führt insbesondere in den Neubaugebieten zu akutem Schulraummangel

Berlin. Nicht nur die Opposition, sondern auch Schulsenator Jürgen Klemann (CDU) redet vom »maroden« Zustand zahlreicher Berliner Schulen. Undichte Dächer, defekte Heizungen, chronischer Mangel an Fachräumen, unbrauchbare Sporthallen sind nicht nur im Ostteil traurige Normalität. Angesichts steigender Schülerzahlen werde Schulunterricht in Berlin in Zukunft wohl in »Zelten, Zügen und Schiffen« stattfinden, unkte schon eine Boulevardzeitung. Tatsächlich, so Klemann, werden die Schülerzahlen drastisch steigen. In Hellersdorf werden sich die Oberschülerzahlen bis 1997 vermutlich fast verdoppeln; mit einem Anstieg von 30 bis 60 Prozent wird auch in Prenzlauer Berg, Wedding und Hohenschönhausen gerechnet. Nach Berechnungen der Fraktion Bündnis 90/Grüne fehlen 1996 etwa 90 Grund- und 60 Oberschulen.

Wer »mit Zahlenspielen Katastrophen herbeirede«, verkenne das Ausmaß der Startschwierigkeiten der Gesamtberliner Schule, kommentierte Klemann vorgestern im Abgeordnetenhaus die Zahlen. In der Antwort auf eine große Anfrage von Bündnis 90/Grüne verwies er darauf, daß 3,5 Milliarden für bauliche Investitionen vorgesehen seien — gestand aber auch, daß die Bezirke Bauvorhaben für fast 10 Milliarden angemeldet haben. Für 70 Millionen sollen »schnellstmöglich« 284 mobile Klassen- und Fachräume gebaut werden, damit zumindest alle Grundschüler zum kommenden Schuljahr wohnortnah untergebracht werden können. Wo Räume noch nicht fertig seien, »müsse für die Übergangszeit zusammengerückt« werden.

Klemann verteidigte die Einrichtung der »Europa-Schule« sowie die Möglichkeit, künftig schon nach der vierten Klasse das Gymnasium zu besuchen. Neben behinderten und benachteiligten müßten auch besonders begabte Kinder besonders gefördert werden. Daß bei der desolaten Lage das Grundschulsonderbauprogramm um die Hälfte gekürzt und Maßnahmen für »besonders befähigte Kinder« finanziert werden sollen, kritisierte Sybille Volkholz, schulpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Grüne. Die Europa- Schule werde sich als »internationale Begegnungsstätte für Diplomatenkinder« entpuppen. Auch die Vorliebe des Senators für den Erhalt von Sportschulen zahlten andere mit schlechterer Ausstattung. Ferner fürchtet Volkholz eine massive Frequenzerhöhung wegen des Raummangels.

Auch mehr als 100 Berliner Schüler machten gestern mit einer Demonstration vom Breitscheidplatz zur Senatsschulverwaltung auf die schlechten Lernbedingungen in Westberliner Schulen aufmerksam. Sie hätten es satt, in überfüllten Räumen mit Lehrmitteln aus den sechziger Jahren zu arbeiten, erklärte ein Schülersprecher. jgo

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