INTERVIEW
: Weiße Mythen

■ Ishmael Reed, schwarzer amerikanischer Schriftsteller, über die weiße Pathologie

Amerikas bekanntester schwarzer Avantgarde-Autor, Ishmael Reed, wohnt im kalifornischen Oakland, einer Stadt mit fast 400.000 Einwohnern, zu 48 Prozent schwarz. Einst eine Metapher für Black Power, ist Oakland heute eine Stadt der Gewalt, welche die in der Bronx übertrifft. Allein seit Anfang des Jahres starben hier 78 Menschen in Bandenkriegen oder durch Mord.

1938 geboren, hat Ishmael Reed bisher 15 Romane voll von bösem Witz und beißendem Spott auf das weiße Amerika geschrieben. Keines seiner Bücher wurde bisher in der Bundesrepublik veröffentlicht.

taz: Oakland gilt inzwischen als eine der gewalttätigsten schwarzen Städte Amerikas. Wie erklären Sie sich, daß es hier anders als in Los Angeles und im benachbarten vorwiegend weißen Berkeley ruhig geblieben ist?

Ishmael Reed: Die Vorstellung, daß die Gewalt von den Stätten der Schwarzen ihren Ausgang nimmt, ist ein Stück weißer Mythologie, die tief in die Bewußtseinsgeschichte weißer Kultur hinabreicht. Denken Sie an Othello bei Shakespeare. Das weiße amerikanische Bewußtsein nimmt den Schwarzen nur als Athleten oder Verbrecher wahr. Das Denken und die Verbrechensbekämpfung besorgen in Amerika die Weißen. In der Berichterstattung über die Aufstände in Los Angeles sehen wir eine neue Arbeitsteilung: Die Koreaner erschienen als die gewehrschwingenden Vigilanten und die Schwarzen als die gewalttätigen Plünderer.

Die Gewalt ist jedoch nicht auf die Schwarzen beschränkt. Los Angeles ist sowieso keine schwarze, sondern die zweit- oder drittgrößte Latino- Stadt. Auch die asiatischen Kulturen, die inzwischen in den Städten Amerikas zu Hause sind, haben eine lange Tradition der Gewalt, man denke an all die „Gelben Kriege“, die Kriege in China, Korea und Vietnam. Die weiße amerikanische Kultur ist eine einzige Gewaltkultur, ihre Opfer sind vorwiegend Schwarze und Hispanics. Auch die bizarren Massenmörder, deren groteske Verbrechen alljährlich Amerika in Atem halten, sind Weiße. Trotz alledem hat Bush, der gerade mit einer Orgie hochtechnisierter Gewalt den Irak heimgesucht hat, den Nerv, von der schwarzen Gewalt zu reden.

Präsident Bush macht — wie viele Weiße — die Auflösung der Familien, die hohe Zahl der Teenager- Mütter, eine tradierte Wohlfahrtsmentalität unter Generationen von ledigen schwarzen Müttern und die Drogen für das Elend der Ghettos verantwortlich.

Das alles ist Projektion der Probleme der Weißen auf die schwarze Gesellschaft. Was die Drogen anbelangt, so ist doch ganz Amerika auf einem Crack-High, und wir stehen kurz vor dem Katzenjammer. Der Golfkrieg war der letzte Flash, aber er hielt nicht lange vor.

Los Angeles ist eine Latino-Stadt, und in der Latino-Gesellschaft dominiert die Familie mit beiden Elternteilen. Es ist gerade die weiße Gesellschaft, deren Familien sich auflösen, deshalb redet sie auch soviel von Familie. Die Mehrzahl weißer Kinder wächst in Familien auf, die früher oder später von nur einem Elternteil versorgt werden; die typische Wohlfahrtsmutter ist weiß und eine verlassene Mittelstandsfrau. Schwarze hingegen haben oft weitverzweigte Familien, die in vielen Fällen eine Art soziales Netz bilden.

In Amerika gibt es eine schwarze und eine weiße Pathologie, die weiße ist unsichtbar, dafür leuchtet man die schwarze geradezu manisch aus. Das liegt daran, daß das Medienestablishment weiß ist, und ebenso wie man sich bei Rauchern nicht dadurch beliebt macht, daß man ihnen Großaufnahmen von Raucherlungen zeigt, weisen die weißen Medien nicht gerne auf die faulen Stellen in ihrer eigenen Gesellschaft hin.

In einem Kommentar im 'San Francisco Chronicle‘ dieser Tage wurde der Riß zwischen dem weißen und dem im weiteren Sinne farbigen Amerika als der Sankt-Andreas- Graben der amerikanischen Politik bezeichnet. Wird Amerika auf alle Zeiten mit der Gefahr solcher Beben leben müssen?

Das Bild ist eindrucksvoll, aber falsch. Es ist ebenso falsch, wie die Teilung der Welt und Europas in Ost und West sich jetzt als falsch erweist. Keiner der beiden Blöcke ist monolithisch. Die schwarze Gesellschaft ist nicht einheitlich und auch nicht rein schwarz. Ich selber habe beim Studium der Yoruba-Sprache entdeckt, daß viele Charakteristika meiner Familie auf Yoruba-Traditionen zurückgehen. Ich sollte mich viel eher als Yoruba-Amerikaner denn als Afroamerikaner bezeichnen. Und dann sind die meisten Schwarzen auch nicht rein schwarz. Ich zum Beispiel habe Cherokee-Blut und war schockiert zu erfahren, daß unter meinen Vorfahren Iren sind. Die meisten Schwarzen würden bei einem genealogischen Studium entdecken, daß sie irgendwo weiße und/ oder indianische Vorfahren haben.

Daß Koreaner und Schwarze ihren eigenen Konflikt miteinander haben, machte ja während der Aufstände in L.A. Schlagzeilen.

Die Weißen stellen uns die asiatischen Gruppen als Musterminderheit hin. Überhaupt hat es in der Geschichte Amerikas immer Musterminderheiten gegeben. Wenn diese dann einen gewissen Wohlstand erreichten, richtete sich der Rassismus gegen sie, und eine andere Minderheit wurde als vorbildlich auf den Schild gehoben. Ein Beispiel dafür sind die Cherokee: Anfang des vorigen Jahrhunderts hatten die Cherokee sich durch Anpassung an die amerikanische Wirtschaftsweise zu einer Art Mittelklasse entwickelt. Daraufhin wurden sie aus ihren Stammgebieten in Tennessee nach Oklahoma zwangsumgesiedelt.

Selbst die Schwarzen waren nach dem Bürgerkrieg kurzzeitig eine Musterminderheit, die gegen die angeblich faulen Iren ausgespielt wurde. Den ehemaligen Sklaven sagte man hohe Arbeitsmoral und Disziplin nach. Dann waren es die Japaner. Deren Verschleppung in Konzentrationslager nach Pearl Harbor hatte nicht nur mit dem amerikanisch-japanischen Krieg zu tun.

Auch das weiße Amerika ist alles andere als homogen. Unter der Oberfläche schlummern die alten nationalen und ethnischen Identitäten und Rivalitäten zwischen Polen, Iren, Italienern, Juden, Kroaten, Serben. Die Gegenkandidatur Patrick Buchanans gegen George Bush etwa sieht vordergründig wie ein Aufstand der Ultrakonservativen gegen den gemäßigten Konservatismus aus. Es ist aber auch ein Rachefeldzug des Iren Buchanan gegen den WASP (White- Anglo-saxon-Protestant) Bush, der den O'Regans (dem Iren Reagan) die Macht abgenommen hat.

Die Teilung Amerikas in Schwarz und Weiß verdeckt alle diese feinen Haarrisse in der weißen Gesellschaft, genauso wie der Ost-West- Konflikt die ethnischen Konflikte in Osteuropa überdeckt hat, die jetzt alle aufbrechen.

Bei alledem spielen Schwarze und Weiße in Amerika dennoch je eine besondere Rolle. Die Weißen sind es, deren Rassismus sich potentiell gegen alle anderen Ethnien richtet. Und die Schwarzen sind im negativen Sinne die Musterminderheit, sie sind der ewige Sündenbock. Ich sage immer, den Schwarzen geht es wie den Juden im Zarenreich. In Rußland gab es gute und schlechte Zaren. Und wir hatten hier gerade zwei sehr schlechte Zaren. Interview: Reed Stillwater

Ishmael Reed ist seit gestern in Deutschland auf Lese- bzw. Musiktour mit der „Conjure“-Band. Die Daten für die Lesungen sind: Freiburg, 23. Mai: „500 Jahre nach Kolumbus — Was hält Amerika zusammen?“; 25.5., Uni Frankfurt; Berlin, 26.5., Amerika-Haus: „Beyond the Melting Pot — A New Multicultural Awareness“; die 14jährige Tochter Tennessee Reed wird am 26.5. (14-16 Uhr) an der Universität Potsdam ihre eigenen Gedichte lesen; 29.5. Uni Nürnberg/Erlangen; Die Band „Conjure“ tritt zusammen mit ihm am 1.7. in Ulm, am 4. in Hamburg und in Mainz am 7.7. auf.