: Die Mörder aus der Nachbarschaft
■ Das jüdische Ehepaar Goldberg wurde in Lesum von SA-Männern erschossen / Heute szenische Lesung
„Wir hörten mehrere Schüsse und zugleich ein anhaltendes, dumpfes, brüllendes Schreien von Dr. Goldberg. Mein fünfjähriger Junge sagte: ‘Nun wird der Onkel Doktor totgeschossen.‘
Das berichtete eine Frau, die im Haus über dem jüdischen Arzt wohnte, in dem Prozeß gegen die Mörder Goldbergs und seiner Frau. Das war fast zehn Jahre nach der „Reichskristallnacht“. Archim Saur und Carsten Ellebrecht von der Dokumentationsstelle Blumenthal haben die Akten dieses Bremer Prozesses studiert und daraus eine szenische Lesung zusammengestellt.
Der Befehl kam vom SA- Sturmlokal in Bremerhaven und erging in der damals noch selbstständigen Gemeinde Lesum an den Bürgermeister, der zugleich der ranghöchste SA-Mann war. Was der Befehl im einzelnen enthielt, darüber gab es vor Gericht widersprüchliche Aussagen. Sicher war angeordnet worden, Juden auch zu töten. Denn als der „Reservesturm Lesum“ der SA, etwa 70 Mann stark, auf dem „Antreteplatz“ versammelt war, wurden Pistolen ausgegeben. Die angeklagten SA-Männer behaupteten dennoch vor Gericht, sie hätten vom Zweck ihres Aufmarsches nichts gewußt. Nur einer gestand, es sei durch die Kolonne von vorne nach hinten durchgesagt worden, daß es gelte, den Juden Goldberg zu erschießen. Sogar der Schütze berief sich darauf, ihm sei die Tat erst im Hause Goldbergs befohlen worden. Der Obersturmführer habe ihm gedroht, daß er sonst selbst erschossen werde. „Unter diesem Druck nahm ich die Pistole und ging ins Schlafzimmer der Eheleute Goldberg“, gab der Schütze zu Protokoll. „Ich habe nun durch zwei Herzschüsse zunächst Frau Goldberg erschossen und ihre Leiche auf die Chaiselonge gelegt. Als ich im Anschluß daran auf Dr. Goldberg schießen wollte, hatte der Revolver Ladehemmung, die ich beseitigen mußte, worauf ich zwei Schüsse auf Dr. Goldberg abgab. Es handelte sich auch hier um Herzschüsse. Ich konnte das in beiden Fällen an den Flecken auf dem Nachthemd deutlich erkennen.“
Der Stolz des Technikers. Der Schütze ist Schiffsingenieur und hat drei Jahre lang im ersten Weltkrieg gedient. Zur Tatzeit ist er 53 Jahre alt, Familienvater.
Auch seine Mittäter, die sich im Flur oder vor dem Hause drängten, waren allesamt gesetzte Männer. Der Lesumer Schulrektor war unter ihnen, einige Herren aus dem Kollegium, Beamte, Handwerker. Sie alle wohnten in der Nähe. Sie kannten Goldberg, und viele waren Patienten des sehr angesehenen Arztes gewesen. Keiner hat ausgesagt, daß er sich beim Anmarsch auf Goldbergs Haus davongemacht habe. „Das wäre durchaus möglich gewesen“, meint der Historiker Achim Saur. Was sie dazu trieb, ihren Nachbarn zu ermorden? Saur: „Da gab es die soldatische Tugend, die Pflichterfüllung, vielleicht auch geheime Mordlust.“
Auch 1938 begannen Kripo und Staatsanwaltschaft zu ermitteln, aber ihnen wurde rasch bedeutet, damit aufzuhören. Das oberste Parteigericht der NSDAP stellt das Verfahren gegen den Schützen im Januar 1939 ein. „Soweit ein klarer Befehl vorliegt, bedarf die Bitte um Niederschlagung des Verfahrens gegen die Täter keiner weiteren Begründung“, schreibt dieses 'Gericht', „die Männer haben vielfach schwerste innere Hemungen niederkämpfen müssen, um den Befehl durchzuführen.“
Von den rund 70 Tätern und Mittätern, die in der „Reichskristallnacht“ zum Hause Goldbergs marschiert waren, kamen 1948 nur sieben vor Gericht. Vier wurden freigesprochen, der Bürgermeister von Lesum wurde zu lebenslänglich Zuchthaus, der Schütze zu 15 Jahren verurteilt, ein anderer SA-Mann zu sechs Jahren. Im Revisionsverfahren wurden die Strafen abgemildert. Willi Schnur
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