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Sehen, schießen und hören

Ein gelungener „Freischütz“ an der Semperoper Dresden  ■ Von Irene Tüngler

Schiefe Wände rücken immer enger zusammen. Durch kaum erkennbare Tore und Fenster kann keiner entkommen. Wenn sie sich unvermittelt öffnen, lassen sie Schlimmes herein. Dazu die Frage der völligen Wehrlosigkeit, als Menetekel auf den Vorhang geschrieben: „Herrscht blind das Schicksal?“

Regisseur Willy Decker und sein Ausstatter Wolfgang Gussmann kennen sich offenbar in der Region aus, wo alltägliche Alpträume zu Bühnenbildern werden können. Zwei blutrote Betten und eine folkloristische Schießscheibe im jägergrünen Raum waren die Grundausstattung zu Carl Maria von Webers Freischütz, der sehr gelungenen Eröffnungspremiere der diesjährigen Dresdner Musikfestspiele an der Semperoper.

Durch den beklemmenden Bühnenraum darf jeder in seine eigene Wolfsschlucht hinabsteigen. Für den Jäger Max beginnt die Hans Mayersche Landschaft eines Alptraums dort, wo ein besoffener Bauer blind trifft, was er ständig verfehlt: das Herz. Das rot gemalte Herz der Schießscheibe. Der Mob im hochgeschlossenen Dirndl piekt ihm mit gerecktem Zeigefinger am gestreckten rechten Arm in sein eigenes: „Wird er, frag' ich, hä, hä hä!“ (Zielte die Frage auf die mehr oder weniger glänzende Bewältigung seines Gesangspartes— nein, er wurde ihrer nicht recht Herr. Höhenangst in der kleinen, wenngleich wohllautenden Stimme.) Trotz alledem, Max schafft das Braut-Bett heran. So ist der Schießplatz in Wahrheit und zur gleichen Zeit Agathes spießbürgerlich-unheimelige Erbförsterei (in der sie, Beatrice Niehoff, gemeinsam mit Ute Selbig als selbstbewußtem Ännchen endlich gehobene vokale Ansprüche befriedigt). In Wirklichkeit ist er aber die allgegenwärtige, weil in das Gehirn der Menschen gefurchte Wolfsschlucht, deren Stickdunst aus dem Untergrund schon immer durch alle Ritzen hereinquillt.

Gelbe Augen im Gesicht einer zähnefletschenden Bestie locken des „Zauberers Hirngebein“ krachend aus dem Bühneboden; Kaspar (Jukka Rasilainen lautstark bei Stimme) kocht Freikugeln in den leeren Augenhöhlen eines erleuchteten Schädels. Der Pöbel zeigt sein wahres Hunde-Gesicht. Das wilde Heer läßt den Opernzuschauer einen Blick in die Grundrezepturen heutiger Alptraumküchen tun; die Erkennungsmarken poppiger Thriller für den kleinen Fernsehkieker sind aufgebaut: Reißzähne und Zombies als absolutes Muß sind jeder Menschenseele frühzeitig zu verabreichen. Wehe, wenn ein Erwachsener dazwischen gerät, ihm vergeht Sehen, Schießen und Hören. Was ja auch Maxen passiert. Er verfehlt Braut, Tugend, Hochzeit und muß dafür ein Holzkreuz schleppen, bis er unter der Bigotterie zusammenbricht. Der deutsche Spießer marschiert zum Jägerchor auf.

Der Dresdner Spießer klatscht Beifall — kritische Gerechtigkeit: Er war wirklich gut gesungen diesmal. (im Gegensatz zur letzten Freischütz-Premiere am gleichen Ort. Damals war eine prominente, wenn auch greise Jagdgesellschaft zur Weihe des alt-brand-neuen Hauses erschienen und kannte nichts anderes aus der Oper als dies mannhafte Liedlein zum privilegierten Stück Brauchtum von Partei und Regierung. Auf der Bühne wurde versungen und vertan, vom Königsbalkon applaudierte es zittrig.)

Der Dresdner Spießer schreit aber auch sein tapferes Buh dem Regisseur hinterher. Fühlt er sich ertappt? Fühlt er sich in seiner Bedrücktheit ausgespäht? Oder fehlt ihm einfach die heilige blauveilchenseidenwaldesrauschende Einfalt, die dieses Stück schon nicht hatte, bevor es komponiert wurde? Gussmann und Decker brachten von ihrem Gang in die vierte und fünfte Dimension — auf dem sie längende Dialogpassagen glücklich zurückließen; mit dem Kreuz hätten sie genauso verfahren sollen — mehr von Webers Dramaturgie und musikalischen Untergründen auf die Bühne, als Christoph Prick — der Staatskapelle entlocken konnte. Spannungsarm, gar zu ordentlich, ohne jene für Weber typische, strahlend auffahrende Noblesse wurde musiziert, die die großen dunklen Flecken dieser Seelenpartitur erst kenntlich werden läßt.

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