: „Die sind eben im Suff gezeugt“
Durch Moskauer Selbsthilfe vom „Invaliden“ zum „Menschen mit begrenzten Möglichkeiten“/ Ziel: Manager im Rollstuhl ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Wie geht es Behinderten in einer Gesellschaft, die selbst noch nicht das Laufen gelernt hat?
Beklommen mache ich mich auf zum Klub „Kontakte1“, der einzigen mir bekannten Graswurzel- Selbsthilfe für Behinderte in der russischen Hauptstadt und schon fast wieder an deren Ende, ganz im Norden. In der kühlen Frühjahrssonne sitzen auf einer Treppe vor dem weithin sichtbaren Schild „Zentrum für unabhängiges Leben“ junge Leute und klönen. Die Klubvorsitzende Marina Borisowna und die Sekretärin Nasira empfangen mich mit Tee und Zuckergußtorte. Helles Linoleum, zartgestreifte Leinenvorhänge, die Fenster werden gerade gestrichen. Für ein Land, in dem die bizarrsten Abstrusitäten als normal empfunden werden und in dem Nölen und Klagen den Ton vorgeben, wirkt die Atmosphäre hier schon fast zu idyllisch — tatsächlich eine Art „Naturschutzpark“?
Der Begriff „Behinderte“ wird im Programm dieses Klubs durch den Ausdruck „Menschen mit begrenzten Möglichkeiten“ ersetzt. Bisher gab es im Russischen nur das lateinische Wort „Invalide“, was ja soviel wie „nicht vollwertig“ heißt. „Daß unkorrekte Begriffe zur Bezeichnung der Leute mit verschiedenen Behinderungen benutzt wurden, das spiegelt das Verhältnis unseres Staates zu seinen Bürgern überhaupt wieder“, meint Marina Borisowna — und sie liest einen Punkt aus ihrem Programm vor, der beschreibt, was ich im russischen Alltag tausendfach gesehen habe, nämlich die „Architektur des Unerreichbaren“ und die den Bedürfnissen von Behinderten auch nicht im geringsten angepaßten öffentlichen Verkehrsmittel, so die mitunter 100 Meter tiefen Schlünde der rasend schnellen Metro-Rolltreppen.
Gegen das hier noch vorherrschende „medizinische Modell“, das „Invalide“ zur Kategorie der „Kranken“ zählt, setzt der „Klub Kontakte1“ ein Emanzipationsmodell, das jungen behinderten Menschen gezielte Möglichkeiten zur Entwicklung anbietet. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Klub Kindern, die vom „DZP“-Syndrom betroffen sind (für Djetski Zerebralny Paralitsch — kindliche zerebrale Paralyse). Es handelt sich dabei um Störungen des Stütz- und Bewegungs- Apparates, von unkoordinierten Zuckungen bis zur totalen Lähmung, Folge von gewaltsamen Traumen oder mangelnder Sauerstoffversorgung des kindlichen Gehirns während der Geburt. Man schätzt, daß allein in Moskau etwa 60.000 Menschen mit diesem Syndrom leben und sich ihre Zahl wegen des rückständigen Niveaus der perinatalen Medizin ständig erhöht. Doch nur 400 Plätze in zwei internatsähnlichen Heilzentren stehen zur Verfügung.
Einige betroffene Eltern aus Nord-Moskau beschlossen Anfang 1991, eine Änderung nicht nur zu erhoffen, sondern auch in Angriff zu nehmen. Vor einem Jahr gründeten sie den Klub, jetzt erweitert sich der Kreis spontan. Sie verwirklichten bereits ein Projekt „Lyzeum auf Rädern“, einen Hilfsdienst „Von Eltern zu Eltern“ und ein Kultur- und Freizeit-Programm. An den Veranstaltungen des Klubs nehmen 286 Familien teil. Das Exekutivkomitee, eine Handvoll Leute, organisiert den Service, etwa 15 Pädagogen arbeiten in ihrer Freizeit für einen wenn auch niedrigen Lohn. Ihr bisher schönster Erfolg: ein Junge, den man nicht einmal in die Hilfsschule aufnehmen wollte, hat durch gemeinsames Bemühen eines Lehrers und einer Logopädin in drei Monaten schreiben, lesen und — was er nie gekonnt hatte — alle Laute richtig auszusprechen gelernt.
Die Privatwagen von Familienvätern und Busse von Sponsoren-Betrieben werden für Ausflüge geheuert. So haben schon einige Kinder den Kreml und das Moskauer Arbat- Altstadtviertel zu sehen bekommen, die bisher keine Ahnung hatten, wie ihre Geburtsstadt eigentlich aussieht. Kino, Theater und Ballett bleiben keine Fremdworte mehr, und erst recht konnte die Sorge einiger Eltern behoben werden, deren Kinder noch im Schulalter keine außerfamiliären Bezugspersonen hatten.
Das Klub-Programm kommt auch mit einem eigenen Angebot an die neue russische Gesellschaft daher: „Bei unserer Philosophie des ,unabhängigen Lebens‘ vergessen wir nicht, daß wir uns mit unserer Forderung nach gleichen Rechten und freier Wahl auch eine gleichhohe Verantwortung für unsere Handlungen aufladen“.
Dem entspricht der Wunsch, sich mit der Zeit seine eigenen „Manager im Rollstuhl“ heranzuziehen. „Viel zu viel Zeit verbringen wir mit ganz alltäglichen Beschaffungsaufgaben“, meint Nasira: „Zum Beispiel sind 99 Prozent unserer Kinder auf Medikamente angewiesen, und gerade die sind nun einmal im Augenblick nicht zu bekommen, — angesichts dessen hören sich unsere Appelle an die Behinderten, ihr Leben selbständig in die Hand zu nehmen, manchmal ziemlich abstrakt an.“
Die schwer herzkranke sechsjährige Jana Sopronowa, deren farbenfrohe „Winnie the Pooh“-Zeichnungen den Versammlungs- und Unterrichtsraum schmücken, könnte nur durch eine Operation im Ausland gerettet werden. Wegen mangelnder Durchblutung stirbt ihr Lungengewebe ab. Neben Winnie hängt eine phantastische Äffin aus Filz. Die kleine Mascha hat sie ganz allein gebastelt, sie leidet unter dem „DZP“- Syndrom und hatte noch vor einem halben Jahr so verkrampfte Arme, daß diese wie eine Stahlfeder zurückschnellten, wenn die Pädagogin sie zu Papier führen wollte.
Und was tut der Klub gegen die Wurzel des Übels „kindliche zerebrale Paralyse“, gegen die Menschenverachtung in den gynäkologischen Kliniken? „Unsere Medizin hat in diesen Fällen bis vor kurzem nicht die Folgen ihrer Stümperei anerkennen wollen, sondern man sagte: ,Die sind eben im Suff gezeugt‘“, klagt Marina Borisowna, deren Tochter selbst betroffen ist. „So leben wir. In den zivilisierten Ländern gehen die Leute in solchen Fällen vor Gericht. Um aber erst einmal ein zivilisiertes Land zu werden, müssen wir unsere Einstellung gegenüber Behinderten ändern. Dann würden sich auch die sozialen Spannungen in unserer Gesellschaft verändern und die Spezial-Dienste für Behinderte könnten mit der Zeit ihren Sondercharakter verlieren und allen Bürgern zur Verfügung stehen.“ Ein Stück Utopia in Moskau- Nord? Im September werden die jüngsten Kinder aus dem Klub in normale Gruppen eines benachbarten Kindergartens eingegliedert werden.
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