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Die Fäulnis hat sich eingenistet

■ Die Erschütterungen des politischen Systems brachten Italien auch schon vor dem Falcone-Mord in eine tiefe Krise. Der am Montag abend bestimmte neue Staatspräsident soll nun das durch Korruption ...

Die Fäulnis hat sich eingenistet Die Erschütterungen des politischen Systems brachten Italien auch schon vor dem Falcone-Mord in eine tiefe Krise. Der am Montag abend bestimmte neue Staatspräsident soll nun das durch Korruption gebeutelte Land aus dem Sumpf ziehen.

AUS ROM WERNER RAITH

Für die Kommentatoren der staatlichen RAI war das Ergebnis „ein Beweis, daß unsere Volksvertreter, wenn fast schon alles zu spät ist, doch noch einmal das Ruder herumreißen und die rechte Wahl treffen“. 'La Stampa‘ befand, daß nun ein „Gentleman“ an der Spitze des Staates stehe, und 'La Repubblica‘ hofft, daß nun „sofort eine Regierung formiert wird, die Italien aus dem Chaos führt“. Die nach 15 Wahlgängen am Montag endlich erfolgte Bestimmung des neuen Staatspräsidenten Oscar Luigi Scalfaro ist vielen eine Art Licht am Ende des Tunnels.

Schlägt man jedoch die Zeitungen auf, erkennt man, wie schwach das Licht in dieser Zeit sein muß. Nahezu keine Seite, die nicht Desaströses aus dem Land berichtet. In den Schlagzeilen immer noch der Mord am ehemaligen Mafia-Oberjäger Giovanni Falcone, gleich danach die hohen Urteile im Mailänder Prozeß um die sogenannte „Duomo connection“, einem riesigen, mit Mafiageldern vermischten Korruptionsskandal, der nun schon drei Jahre zurückliegt und der überlagert wird von einem neuen Erdbeben: Wie sich zeigt, flossen zwecks Bestechung eben nicht nur mafiose Gelder, sondern in weit höherem Maße auch die ehrenwerter Firmen wie FIAT und Dutzender großer Bau- und Ausstattungsunternehmen. Zweihundert Topmanager und Politiker bis hin zu Abgeordneten der Traditionsparteien stehen unter Anklage, viele davon sind verhaftet oder unter Hausarrest. Dann wieder Berichte über Todesfälle in Krankenhäusern, weil das Personal fehlte oder verfallene Medikamente verabreicht wurden. Schließlich Berichte aus den Gerichten von Neapel und Palermo, wo Hunderte staatsanwaltschaftlicher Stellen unbesetzt sind. Schließlich Kostproben kommunaler Mißwirtschaft: In der piemontesischen Hauptstadt Turin werden die Telefone abgestellt, weil die Stadt umgerechnet rund 1,5 Millionen Mark Rechnungen nicht bezahlen kann.

Sumpf, wohin man blickt, so scheint es bei der Lektüre der Tageszeitungen und den Fernsehberichten. Korruption, Mißwirtschaft, Gesetze, die niemandem nützen — es sei denn, der Unterwelt —, nicht eingehaltene Versprechen, chronisches Haushaltsdefizit. Derzeit hat gerade Brüssel mal wieder aufgelistet, wie weit Italien hinter den Maastrichter Normen herhinkt. Natürlich liegt die Versuchung nahe, alle Schuld der überalterten politischen Herrscherkaste und ihrer Kungelei mit Kriminellen aufzuladen — genau das haben sich die Italiener auch reichlich angewöhnt. Doch „Vorsicht“, sagte Untersuchungsrichter Falcone schon vor Jahren. „Seht das nicht als rein südländische Exotik an: Cosa nostra (Unsere Sache — der Eigenbegriff mafioser Gruppen, W. R.) ist längst nicht mehr eine italienische Spezialität. Und sie ist auch nicht mehr nur das, was man als Mafia bezeichnet: Sie durchdringt alles, weil sie von der regionalen Besonderheit zum System geworden ist, dem keine moderne Demokratie etwas entgegenzusetzen hat. Es zeigt sich in der politischen Moral ebenso wie im Verfall der Institutionen. Und es kommt auf euch genauso zu, wie wir es jetzt erleben.“ Falcone hatte den Marsch des Kraken von Palermo bis hinauf in die Aktienplätze Mailands vorausgesagt und immer wieder gegen das Hohngelächter sich immun glaubender Börsianer angekämpft — bis endlich auch einzelne Politiker aufwachten. Innenminister Gava erklärte 1990, daß mehr als ein Drittel aller Staatsschuldverschreibungen von Unterweltzirkeln aufgekauft worden waren — um bei Gelegenheit mit Kursbeeinflussungen auf die Regierung einwirken zu können.

Daß die Fäulnis sich in Italien allerorten eingenistet hatte, war manchen Gesellschaftswissenschaftlern schon lange klar. La palude e la città nannten die Soziologen Nando dalla Chiesa und Pino Arlacchi vor zwei Jahren ein Buch, das zum Bestseller wurde. Bei der Auflistung all dessen, was in Italien verkommen war, fanden sie kaum einen gesellschaftlichen Bereich, der ausgespart war: vom Arbeitsplatz bis zum Gesundheitsdienst, von der Altersversorgung bis zum Transportwesen. Notorische Korruptionswilligkeit, die Vorherrschaft eines alle modernen Marktanforderungen zerstörenden Klientelwesens, veraltete Strukturen, Unwilligkeit zu einer enormen Bildungsanstrengung (s. auch das Interview) sehen die Autoren als prinzipielle Ursachen für den Verfall an. Doch daß diese Erklärung alleine nicht ausreicht, erkennen mittlerweile vor allem jene, die den Verfall ganz besonders hautnah und in seiner ganzen Gefährlichkeit erleben: „Europa und der Westen“, sagt der ehemalige antimafiose Bürgermeister von Palermo und neue Parlamentsabgeordnete Leoluca Orlando, „läßt Italien seit einigen Jahren immer mehr alleine (1991 wurde auf Sizilien das US-Konsulat geschlossen, d. Red.), der Botschafter in Rom sagte mir, daß Washington neu gewertet hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, Konsulate seien in Litauen, Lettland oder in Berg-Karabach nützlicher als in Palermo.“

Italien war dem Westen nützlich, so lange die sowjetische Flotte im Mittelmeer herumschwamm. Seit das nicht mehr notwendig ist, gerät das Land „immer mehr an den Rand nicht nur Europas, sondern der Zivilisation schlechthin“ (Orlando). Daß man in einem Land der EG, so Nando dalla Chiesa, „pro Jahr zweitausend Menschen umbringt und Wahlkampf mit Mordanschlägen betreibt — alleine bei den letzten Kommunalwahlen wurde ein Dutzend Kandidaten umgebracht —, beeindruckt die Brüsseler Eurokraten nicht im geringsten. Für sie ist wichtig, wann Italien seinen Haushalt saniert. Daß es bei uns keine Rechtssicherheit mehr gibt, daß die Unversehrtheitsgarantie durch grenzenlos schaltende Klans mit Füßen getreten wird, provoziert in Westeuropa nicht einmal einen leisen Protest — für mich ein klares Zeichen dafür, daß Europa Italien aufgegeben hat.“

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