: ZUM MEER „NACHGELASSENER“ INTERVIEWS DES ERMORDETEN MAFIA-JÄGERS
Italien unter der Falconitis
Rom (taz) — Seine Büros sind mittlerweile total umgekrempelt worden, die Akten abtransportiert, seine Wohnung von unten bis oben durchsucht: verzweifelt suchen Italiens Ermittler herauszufinden, was der ehemalige Antimafia-Untersuchungsrichter Giovanni Falcone in den letzten Tagen vor seinem gewaltsamen Tod durch eine Tausendkilobombe getrieben hat, mit wem er geredet, wen er getroffen hat.
Vergebliche Mühe, all die Durchsuchungen und Nachforschungen: die Antwort liegt nämlich auf der Hand. Falcone hat in seinen letzten Wochen, ja Monaten nichts anderes getan als Interviews gegeben. Tag und Nacht, ohne Unterbrechung, täglich sechzig Stunden und mehr. Zu dem Ergebnis kommt jedenfalls eine schon oberflächliche Zählung all der letzten, allerletzten und aller- allerletzten Interviews, die italienische und — inzwischen — auch ausländische Journalisten, Publizisten, Mafiaexperten veröffentlichen. So sind nun die Seiten der nationalen und internationalen Presse, von der ‘Welt' bis zur ‘Repubblica', von der ‘Times' bis zu ‘Le Monde' vollgefüllt mit ganz- oder halbseitigen, zumindest aber in lange Artikel verstreuten letzten Statements, die der Todgeweihte ganz zufällig jenem Korrespondenten ins Mikro oder, wo dieses fehlte, in Ohr hineingeworfen hatte. Wer Falcone einigermaßen kannte, weiß, wie kurz angebunden der eher verschlossene Sizilianer war und wie unendlich lang es dauerte, bis man beim Abschreiben eine oder zwei Schreibmaschinenseiten voll bekam. Die Journalisten Saverio Lodato und Francesco La Licata brauchten für ein Dutzendseiten-Interview ihres Buches zum Maxi-Prozeß in Palermo Wochen.
Doch Tote haben den Vorteil, sich nicht wehren zu können, und so ist aus Falcone posthum nun ein regelrechter Quasselfritz geworden. Sofort nach dem Tod des Richters begann ein regelrechter Boom im Handel mit angeblichen Falcone-Interviews. Der taz wurden innerhalb von 48 Stunden nach dem Attentat nicht weniger als drei letzte Gespräche angeboten. Das eine war, wie sich sofort herausstellte, ein nicht sonderlich professionell oder einfach zu hastig zusammengestellter Schnitt aus älteren Rundfunk- oder Fernsehsendungen. Das zweite durfte der Korrespondent in Rom — aus angeblichen Geheimnisgründen — nur am Telefon anhören und war nach dem Inhalt mit Sicherheit ein Versuch der Spurenverwischung, denn die Stimme war nicht die Falcones (wenngleich geschickt nachgemacht, aber einige Male fehlte das gerollte „l“, das die sizilianische Färbung ausmacht), das dritte wurde — „vorsichtshalber zunächst“ — nur schriftlich hergezeigt und enthielt zahlreiche Sinnfehler.
Falcone selbst war freilich schon zu Lebzeiten gewohnt, daß seine Sprechvorsicht die Schreiberlinge zu allerlei Phantasien anregte.
Die Tendenz, Wortfaulen mit eigener Phantasie nachzuhelfen, ist ja nicht neu: der römische Professor Tullio De Mauro zeigt heute noch gerne einen Ausschnitt aus 'La Repubblica‘ vor einigen Jahren, wo ein ausführliches Streitgespräch zwischen ihm und Alberto Moravia wiedergegeben war — auf einem Kongreß, der nie stattgefunden hatte und zu einer Zeit, zu der beide sich an ganz verschiedenen Punkten der Welt befanden.
Falcone reizte wie kein Zweiter zu Imagination und Ausschmückung: sein Leben im Bunker und hinter dem Panzerglas schwerer Autos bereicherten fast automatisch jedes mit ihm gewechselte Wort um das Krimiwissen des Gesprächspartners.
Zu den unbestrittenen Meistern der Falcone-Aufblähung gehörte schon vor Jahren der deutsche Fernsehjournalist Dagobert Lindlau: aus acht halbzeiligen Sätzen des Ermittlers hat er in seinem Buch Der Mob zweieinhalb Seiten gemacht, die den Eindruck eines stundenlangen Interviews vermitteln. Werner Raith
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