: Da blieb nur geiler Staub
■ Ein Gespräch mit Harold Pinter über den Golfkrieg, die Medienpolitik und ein abgelehntes Gedicht
Ich habe dieses Gedicht angefangen, als ich im Flugzeug saß, auf dem Weg zum Edinburgh-Festival im August 1991. Als wir in Edinburgh landeten, hatte ich eine grobe Skizze fertig. Auslöser dafür waren der Triumphalismus, der Machismo und die Siegesparaden, die damals gerade ihr Unwesen trieben.
Die erste Zeitung, an die ich das Gedicht schickte, war die 'London Review of Books‘. Als Reaktion erhielt ich einen ziemlich merkwürdigen Brief, der etwa besagte, das Gedicht sei sehr kraftvoll, aber genau das sei der Grund, warum man es nicht veröffentlichen könnte. Weiter hieß es in dem Brief — und das war schon recht ungewöhnlich —, daß man meine Ansichten über die internationale Rolle der USA teile. Ich schrieb also zurück. „Ach wirklich, die Zeitung teilt meine Ansichten? Wenn ich du wäre, Kumpel, dann würd' ich das lieber für mich behalten.“ Und ich war sehr zufrieden mit dem Ausdruck Kumpel in diesem Zusammenhang.
Dann schickte ich es an den 'Guardian‘. Der damalige Literaturredakteur rief mich an und meinte: „Oje oje, Harold, das ist wirklich... Also du machst mir wirklich Kopfschmerzen...“ Ich sagte ihm, daß ich persönlich mit ihm fühle. Er sagte noch: „Aber weißt du, ich glaube nicht... Oje, ich glaube, das gibt Ärger, wenn wir es im 'Guardian‘ bringen.“ — „Ach wirklich“, fragte ich ganz unschuldig, „wieso denn?“ — „Weißt du, Harold, wir sind eine Familienzeitung.“ Das hat er wirklich gesagt. Und ich sagte: „Ach, das tut mir aber leid. Mein Eindruck war, daß ihr eine ernsthafte Zeitung seid.“ Und er meinte: „Ja natürlich, wir sind auch eine ernsthafte Zeitung. Aber in den letzten Jahren haben sich die Dinge beim 'Guardian‘ ein bißchen verändert.“
Ich schlug ihm vor, er solle doch mit einigen Kollegen hierüber sprechen. Nach zwei Tagen rief er wieder an: „Harold, es tut mir schrecklich leid, aber ich kann es nicht bringen.“ Er deutete an, daß sein Job ihm wichtiger wäre. Also das war der 'Guardian‘. Danach schickte ich es an den 'Observer‘...
Index: Der deine Gedichte früher gedruckt hat...
Harold Pinter: Ja, auch der 'Guardian‘ hat früher Sachen von mir gedruckt... Wie, nebenbei gesagt, auch der 'Independent‘. Der 'Observer‘ bot das faszinierendste und komplexeste Gespinst, in das ich je geraten bin. Ich schickte das Gedicht nicht an den Literaturredakteur, sondern gleich an den Chefredakteur.
Nach einigen Tagen rief er mich an und sagte, er sei der Meinung, daß es veröffentlicht werden sollte. Er sagte auch, daß es recht provozierend sei. Wahrscheinlich würde es ziemlich unter Beschuß kommen. Trotzdem dächte er, es solle veröffentlicht werden, nicht auf den Literatur-, sondern auf der Kommentarseite. Es sei ein ausgesprochen politisches Gedicht.
Ich war hoch erfreut und bat ihn, mir die Fahnen zu schicken, was er auch tat.
Am nächsten Sonntag war es nicht drin und auch am darauffolgenden Sonntag nicht. Also rief ich den Chefredakteur an. Er sagte: „Oje, Harold, es tut mir leid, aber ich habe einige Probleme mit Ihrem Gedicht gehabt.“ Ich fragte ihn, was das für Probleme waren. „Kurz gesagt: Meine Kollegen wollen nicht, daß ich es publiziere.“
Und warum nicht?
„Sie sagen, daß wir eine Menge Leser dadurch verlieren würden.“
Ich fragte ihn, ob er das wirklich glaube. Wir unterhielten uns ganz freundlich. Er sagte mir, daß er das Gedicht wirklich veröffentlichen wolle, aber damit offenbar allein stünde. — Soweit wir wissen, begruben die Amerikaner unzählige Irakis bei lebendigem Leib unter Wüstensand, schaufelten sie zu. „Das ist von Ihrer Zeitung berichtet worden“, sagte ich, „und dieser Bericht enthält furchtbare und geradezu obszöne Fakten. In meinem Gedicht heißt es: ,In ihrer eigenen Scheiße sind sie erstickt.‘ Das ist obszön, aber es geht auch um obszöne Tatsachen.“
Er sagte: „Ja, das stimmt genau. Ich will das Gedicht ja veröffentlichen, aber der Widerstand dagegen kommt von allen Seiten. Das Problem ist die obszöne Sprache. Die Leute ekeln sich davor, und deshalb glauben sie auch, daß wir Leser verlieren.“ Ich schickte dem Chefredakteur des 'Observer‘ daraufhin ein kurzes Fax, in dem ich schrieb, was ich bei meinem Besuch in der US- amerikanischen Botschaft in Ankara im März 1985 zusammen mit Arthur Miller gesagt hatte. Ich sprach mit dem Botschafter über Folter in türkischen Gefängnissen. Er erklärte mir, daß ich die Situation angesichts der kommunistischen Bedrohung, der militärischen Realitäten, der diplomatischen Realitäten, der strategischen Realitäten und so weiter zu sehen hätte. Ich sagte ihm darauf, die Realität, auf die ich mich bezöge, seien Elektroden am Geschlecht. Daraufhin mahnte mich der Botschafter: „Mein Herr, Sie sind zu Gast in meinem Haus“, und wandte sich ab, worauf ich ging.
Was ich dem Chefredakteur des 'Observer‘ zu erklären versuchte, war, daß der Botschafter empört war über das Wort Geschlecht. Aber die Realität der Elektroden am Geschlecht kümmerte ihn nicht. Daß ich das Wort Geschlecht aussprach, empörte ihn, nicht die Tat, von der ich sprach. Ich schrieb, es gäbe hier offenbar Parallelen zwischen diesem Gespräch und dem, worüber wir verhandelten. Das Gedicht benutzt eine obszöne Sprache, um obszöne Handlungen und Haltungen zu charakterisieren.
Aber der Chefredakteur des 'Observer‘ schrieb mir zurück und teilte mir mit, daß er bedauerlicherweise das Gedicht nicht bringen könne: „Ich gebe zu, daß ich kalte Füße gekriegt habe.“ Vor kurzem schrieb ein 'Observer‘-Kolumnist über die Weigerung der Zeitung, das Gedicht zu bringen, und spielte an auf Bedenken des Chefredakteurs „wegen der lyrischen Mängel“ des Gedichts. Aber das stimmt natürlich nicht. Der Chefredakteur hat solche Bedenken nicht gehabt — jedenfalls nicht mir gegenüber.
Ich schickte das Gedicht als nächstes an den 'Independent‘ und schrieb dazu, daß ich es nicht gleich an sie geschickt hätte, da ich meinte, der 'Independent‘ würde es ohnehin nicht bringen. Nachdem es aber vom 'London Review of Books‘, vom 'Guardian‘ und vom 'Observer‘ abgelehnt worden sei, bestünde ja vielleicht die Möglichkeit, daß ich mich über den 'Independent‘ getäuscht hätte.
Also, um eine sehr lange Geschichte etwas abzukürzen: der Literaturredakteur wollte es veröffentlichen, aber nicht, ohne es vorher dem Chefredakteur gezeigt zu haben. Der Chefredakteur guckte es sich ein paar Tage lang an und sagte dann nichts weiter darüber, als daß der 'Independent‘ es nicht bringen würde. Erklärt wurde nichts. Es hieß einfach schlicht und ergreifend: nein.
Du hast gesagt, du möchtest diese Geschichte der Ablehnungen lieber nicht schreiben, weil das aussähe, als würdest du herumjammern. Aber dieses Gedicht wurde von einer Presse abgelehnt, die sich sonst um jedes Fitzelchen Text von Harold Pinter schlagen würde.
Übrigens habe ich es auch an die 'New York Review of Books‘ geschickt, als Witz sozusagen. Der Chefredakteur dankte mir freundlich für die Zusendung, schrieb aber, er könne es leider nicht bringen. Ich habe mich dann nicht mehr weiter aufgehalten und es gleich an eine Zeitschrift weitergeschickt, von der ich hörte, daß die vielleicht Interesse hat. Sie heißt 'Bomb‘, wird professionell produziert und sitzt im West Village (New York), und die hat es dann tatsächlich genommen.
Im Januar 1992 wurde das Gedicht schließlich auch in Großbritannien veröffentlicht, von einer neuen Wochenzeitung, 'Socialist‘, die ziemlich klein ist. In Holland brachte es eine der großen Tageszeitungen des Landes, das 'Handelsblad‘, mit einem sehr deutlichen Artikel vom Chefredakteur über die Geschichte der Ablehnung in England. Auch in Bulgarien, Griechenland und Finnland ist es publiziert worden.
Mir ist das Argument der Sprache wichtig: Als Chefredakteur von 'Index‘ bin ich verantwortlich für den Verlust einer Beihilfe von 7.000 Pfund. In unserem Frauensonderheft 'Breaking the Silence‘ (9/1990) wird einmal das Wort „Fotze“ benutzt. Ich ließ es durchgehen, da es im Kontext gerechtfertigt war. Wie es scheint, war jedoch einer unserer Sponsoren anderer Ansicht und zog die Zusage seiner Organisation auf das Geld zurück.
Ich frage mich, ob du das Gedicht nicht noch einmal anbieten solltest, als Test sozusagen. Denn diese Ablehnungen sind so endgültig aus den falschesten Gründen: „Familienzeitung“... „Verlust von Lesern“...
Oh nein, ich habe nicht vor, das — oder irgend etwas anderes — bei diesen Zeitungen noch einmal vorzulegen. Es sei denn, ich fange demnächst an, Kinderverse zu schreiben.
Mir kommt es fast lachhaft vor, daß da plötzlich so eine Sensibilität herrscht, wo wir uns doch alle an eine deftigere Sprache in allen möglichen Druckerzeugnissen längst gewöhnt haben. Vielleicht ist dies ein Spiegel dieser politisch merkwürdigen Ära, in der wir leben. Überall gibt es diese ziemlich feigen und schrägen Reaktionen auf Ereignisse und Tatsachen, die in sich selbst brutal sind. Man vermeidet eine brutale Sprache als Strategie, die Brutalität der Dinge selbst zu vermeiden.
Ja — es ist allgemein bekannt und oft genug gesagt worden, daß die „Säuberung“ des Golfkriegs offensichtlich war. Der wirkliche Charakter des Grauens wurde selten beschrieben oder im Fernsehen gezeigt. So etwas wie dieses Gedicht ist für mich nichts anderes als das Wegziehen eines Vorhangs, den die meisten eben lieber geschlossen sehen. Und natürlich ist es im Interesse der Regierungen, daß dieser Vorhang vor dem, was die Realität wirklich ist, auf ewig ausgeschlossen bleibt.
Jeder Krieg besteht aus Blut und tropfenden Eingeweiden und Körpern, die in Fetzen gerissen sind. Aber außer dem einen Foto, das der 'Observer‘ gebracht hat, von einer verkohlten Gestalt auf einem Panzer, gab es in diesem Krieg keine zerfetzten Menschen.
Nein, damals nicht und heute als Erinnerung nicht. Man kann die Geschichte der Gegenwart auf eine Reihe von Ereignissen in den achtziger Jahren ziemlich präzise zurückführen. Ich meine die US-Invasion von Grenada 1983, den „Low Intensity“-Krieg gegen Nicaragua, die Invasion von Panama 1980 und schließlich den Golfkrieg. Ich bin der Meinung, daß genau das in der letzten Zeile des Gedichts repräsentiert ist: „Und jetzt möchte ich, daß du hierherkommst und mich auf den Mund küßt.“ Das zeigt, wer der Böse ist, wer den Ton angibt, den Herrn.
Aber das Verhalten der Medien ist bei all dem von äußerster Wichtigkeit. Es ist inzwischen bestätigte Tatsache, daß es in Panama nahezu 4.000 Tote gab. Damals jedoch sprachen die Medien von ein paar hundert.
Was die westliche Presse tut, ist, im eigenen Interesse — oder dem der Regierungen — bestimmte Fakten aufzubauschen und zu übertreiben und andere zu ignorieren oder gar zu unterdrücken. Die Toten im Irak und das Sterben, das dort weitergeht, finden wir nicht auf den ersten Seiten.
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