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Dem Speicheltrichter entronnen

Sorokins „Die Schlange“ nach Pawlow: Uraufführung in Dresden  ■ Von Mirjam Schaub

Genossen, wer ist der letzte?“ Eine ältere Frau steht von ihrem sicheren Platz im Kleinen Schauspielhaus, Dresden, auf. Die Unruhe wächst. Ein Mann im oberen Drittel des Saals macht sich bemerkbar: „Ich wahrscheinlich, aber nach mir kommt noch eine Frau im blauen Mantel.“ „Dann komme ich nach ihr“, fragt eine irritierte Stimme aus der zweiten Reihe nach. „Na gut, dann warte ich. — Stehen Sie schon lange?“ Schon sind wir, die noch nicht aufgestanden sind, mitten drin, recken die Hälse, gaffen, warten, wer sich als nächstes in Die Schlange einreiht.

In Dresden hat der Regisseur Carsten Ludwig für das Theater erstmals umgesetzt, was seit 1991, der Übersetzung von Wladimir Sorokins Die Schlange aus dem Russischen, auf der Hand lag. Der fast unliterarisch zu nennende, nur auf Protokollsätze beschränkte Text zeichnet minimalistisch das Geschehen in einer Warteschlange nach. Was ist ein Individuum in einer Schlange? Eine Schlange, die mehr als 2.000 Inidividuen umfaßt, die Tage, Nächte, mit Wartenummern versehen, stehen, Kvas trinken, rülpsen, warten, Kreuzworträtsel lösen, über die Güte von SONY oder BASF-Kassetten fachsimpeln, warten, sich verlieben, warten, argwöhnisch die Drängler beäugen, warten, Witze über die Obrigkeit reißen — und kein Ende. Worauf die Leute warten, ist nebensächlich. Sie selber wissen es nicht. Stündlich werden die Spekulationen um die knappen Güter neu angeheizt.

Die Schlange — als Abbild einer kollektiven Realexistenz, in der die „Intimsphäre auf die imaginären Freiräume des Schlafs“ (Programmheft) verengt wurde?

Nicht Einfühlung, sondern die hochsignifikante Schlange als wissenschaftliche Versuchsanordnung in der Tradition des Behaviorismus sollte in Dresden gezeigt werden. Nicht Freud, sondern Pawlow hat Modell gestanden: der Mann, der seine Hunde durch einen Trichter speicheln ließ, um den Grad ihrer Reaktionen zu messen, während er sie diversen Reizen aussetzte. Ein reduktives, vielleicht tautologisches Projekt, das die Inszenierung der „17 Variationen auf ein anthropologisches Thema“ zunächst auch einzulösen schien.

In Dresden reihen sich Schauspieler und Laien, mit Trabisitzen, Gummireifen, Plastetüten bewaffnet, in die Schlange ein, treten auf den durch den Zuschauerraum geführten Stegen auf der Stelle. Dazu Musik von Michael Nyman — Greenaways Komponist —, redundant, ein Möbiusband. Sich die Schlange als pulsierenden Organismus zu denken — überaus lebendig, gefräßig wiederkäuend, selbstgenügsam — wird durch Sorokins Text nahegelegt. Die Inszenierung weiß um die Brillianz des Textes, kürzt und bereichert ihn um einige aktuelle Wendewitze, deutsche Namen in der Warteschlange und elektronische Requisiten wie Rasierapparat und Fön, notwendige Utensilien, die Tage nach harten Nächten emsig und selbstvergessen zu beginnen. Der Regisseur Carsten Ludwig, der schon vor der Wende die Skandalinszenierung von Stendals Einer flog übers Kuckucksnest fabrizierte, hat viele gute Regieeinfälle. Einmal läßt Ludwig seine SchlangensteherInnen wie Aquariumsfische „Wir“ glucksen, leitet vom „Nam-jam“ der Verdauungsszene unversehens zu Stalins Lieblingsvolkslied über; er drapiert die Szenerie im Licht einer TGL-genormten Peitschenlampe, wie sie silbrig glänzend an den Selbstschußanlagen der DDR stand. Vor den Lautsprechern, die „ich wiederhole zum dritten Mal. Die in den Bussen vorgefahrenen Menschen sind berechtigt, sie sind Vertreter, von Euch gewählt!“ schnarren, generiert sich die lethargische Böswilligkeit der Kleinbürger, die nicht mehr warten wollen und doch nur warten können. Eine ubueske Szene.

Das behavioristische Konzept der Inszenierung kracht erst in den Fugen, als die „Auflösung durch Naturereignis“ (Szenentitel) geschieht: Regen. Zwei Wartende flüchten in eine Wohnung. Im Interieur aus Pappkartons verliert die Inszenierung das Gespür für Rhythmus. Der Trip in das Innere des Organismus, hier: die Zweisamkeit, scheint nach dem unprätentiösen, seltsam authentischen ersten Teil, plötzlich dem Kitsch verschrieben. Daß die Szene als Schnitzlerscher Reigen angelegt ist, in dem jede mit jedem anbändelt, kopuliert, erfahren die ZuschauerInnen zu spät. Das Reiz-Reaktions- Schema bricht mit dem Auftritt des ersten Paares ein. Die Masse läßt sich als Kollektivkörper und Organismus zeigen, der ganz bestimmte Funktionen ausführt. Sobald nur zwei Menschen auf der Bühne stehen, wird das Individuelle im Sinne der Entwicklungspsychologie sichtbar. Nach der quasi-realistischen, überaus lebendigen Darstellung des Kollektivleibs flüchtet die Regie mit den Paaren in die Symbolisierung. Ein Indiz für die Verlegenheit der Regie ist, daß sie in den Zweierszenen nur Profischauspieler einsetzt, womit gewährt ist, das nichts Einfaches, Plattes mehr gesagt werden kann. Das Physische, mit der Sexualsphäre an die Grenzen des Darstellbaren gelangt, wird kunstvoll überhöht: Die Triebhaften berühren sich nicht, der Orgasmus findet in zwei Metern Luftlinie statt. Indem die Symbolisierung das Reflexhafte ablöst, verläßt die Inszenierung das Pawlowsche Modell: Ein Organismus kennt keine Introspektion. Er ist selbstreferentiell und selbstgenügsam.

Aber schon in den Kollektivszenen gibt es ein Indiz dafür, daß die Theorie der Reflexe auf dem Theater nur bedingt Anwendung finden kann: Wenn die SchlangesteherInnen kollektiv ein Kreuzworträtsel lösen und das Lösungswort für „Wissenschaft von der Abstammungsgeschichte des Menschen“ — Biologie — benennen sollen, dürfen sie den Begriff nur anhauchen, nie ganz aussprechen. Aber eben die Dehnung, die Pointierung des Begriffs durch das Regiekonzept, lenkt die Aufmerksamkeit nur allzu deutlich auf die Metaebene, das Gemeinte. Die Versuchsobjekte, auch das Publikum, werden genötigt, aus der Pawlowschen Versuchsanordnung herauszubrechen, versehentlich.

Unwillig geworden, verliert man sogar das Interesse an den in Woolworth-Bademäntel gehüllten Männern, die in Orgonen-Boxen hocken. Wilhelm Reich grüßt seine ProbantInnen.

Wladimir Sorokin: Die Schlange. Übersetzt von Peter Urban. Bühnenfassung: Ludwig/Grünbein. Direktion: Carsten Ludwig. Konzeption: Durs Grünbein. Bühnenbild: Matthias Bolz. Musik u.a. Michael Nyman: „The Kiss and other Movements“. Mit Carsten Andörfer, Eleonore Elstermann, Holger Fuchs, Horst Hofmann, Peter Meining Anna-Katharina Muck, Anna Riedl, Heike Thiem u.a. Uraufführung im Rahmen der Dresdner Musiktage.

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