: Halb Schwein gehabt
Rohstoffbörse des Fleisches: Der Moskauer „Vollmond“- Frühlingsball. Keinen Rubel für das Museum Michail Bulgakow ■ Von Barbara Kerneck
Ob das Wort "Nepp" sich wohl ethymologisch von der Abkürzung „NEP£ ableiten läßt? Der Moskauer Maivollmondball, in diesem Jahr das erste große gesellschaftliche Ereignis der post-sowjetischen Epoche, legte jedenfalls diese Vermutung nahe. Er sollte an jene Zeit der „Neuen Ökonomischen Politik“ — russisch abgekürzt „NEP“ — erinnern, als die Roaring Twenties auch in Rußland fröhliche Urstände feierten, das Privatkapital und ausländische Investoren für einige Jahre wieder zugelassen wurden und eine halbseidene Geschäftswelt boomte. Die wußte noch nach Art der alten Moskauer Kaufmannschaft fetttriefende Feste zu feiern, wie sie Michail Bulgakow in seinem Roman Der Meister und Margarita karikiert hat. Als Reminiszenz an den „Großen Ball des Satans“ aus diesem Roman wurde das diesjährige Fest vom Elite-Journal 'Kommersant‘ und der munizipalen Illustrierten 'Stoliza‘ im voraus heftig propagiert, auch als Verbeugung vor Bulgakow, der seinen Geburtstag immer in der Nacht des Maivollmondes feierte. Der Gewinn aus den gewiß nicht unbeträchtlichen Erträgen, die das Fest einbrachte, sollte der Errichtung eines Museums in Bulgakows ehemaliger Wohnung in dem Haus am großen Gartenring zugutekommen — zu der schon heute die Moskauer Jugend in Scharen pilgert. Ort des Balles hingegen war der „Garten Eremitage“, ein von einer Mauer umgebener parkähnlicher Komplex in der Moskauer Altstadt, in dem sich private Restaurants, Varietés und ein Theater zu einem lockeren Verband zusammengeschlossen haben. Ein Billett in das „Restaurant der 100 Könige“ kostete einige Wochen vor dem Ereignis 10.000 (zehntausend) Rubel, was zwar umgerechnet bloß 110 DM sind, hier aber immerhin ein dreifacher Durchschnittsmonatslohn. Die letzten Eintrittskarten wurden schon für das Sechsfache versteigert. Wer nur in den Garten und ins Theater wollte, kam mit 2.000 Rubeln davon.
Geisterdiktatoren
Verantwortlich für die gesamte Festgestaltung waren die Firmen „ELBA-ROSS“ und „TWINS“, professionelle Festveranstalter und Partydienste und somit eine Neuheit in Moskau. Igor Mikitassow, der 24jährige TWINS-Chef, lächelte schon vor dem Ereignis „Cheese“ von übergroßen Plakatwänden und einem Fesselballon im Eremitage Garten. Kein Wunder, daß er gesunde Zähne hat, denn er raucht und trinkt nicht, um nicht vorzeitig zu altern und bezeichnet schöne Frauen als seine „einzige Schwäche“. Die Mikitassow-Gespielinnen, in deren Kreis er sich stets fotografieren läßt, sollten jedenfalls dafür sorgen, daß es auf dem Fest an „Hexchen“ nicht fehle. Versprochen wurden allen Teilnehmern Champagner- und Cognacfontänen, außerdem — getreu nach gewissen Szenen aus dem Roman — die Abtrennung eines dem Apparatschik und Literaturfunktionär Berlioz zugesprochenen „lebendigen“ Kopfes und ein Regen aus Tscherwonzy (Zehnrubelscheinen), dazu ein „Bacchanal“, Tanz mit Hexen, Teufeln und Vampiren, sowie nach Mitternacht der Auftritt der Geister der größten Diktatoren aller Zeiten. Diese Programmpunkte waren für das „Spiegel-Theater“ vorgesehen, für den Park ein „satanisches Feuerwerk“ — und für das Restaurant ein vom Kater Begemont — „einer der ganzen GUS bekannten Persönlichkeit, die wir noch nicht verraten wollen“ — moderiertes Varietéprogramm. In dessen Verlauf versprachen die Schülerinnen der Moskauer Striptease-Schule nur mit Schürzchen angekleidet zu servieren. Vor Tische klang es eben ganz, ganz anders. Aber schön der Reihe nach. Beginnen wir mit dem Kopf! Die ersten Buhrufe ertönten, als die Vorstellung im „Spiegel-Theater“ mit zwanzigminütiger Verspätung begann und aus dem Orchestergraben ein Wachskopf geschleudert wurde, dessen Zugehörigkeit und Abtrennung nicht näher ersichtlich waren. Die Enttäuschung hatte schon am Eingang des Theaters begonnen, wo sich die Champagnerfontänen als mickrige Pappbecher erwiesen: durchaus nicht jedem konnten sie gereicht werden. Der landesweit bekannte Zauberkünstler Igor Kio entschuldigte sich mit dem Hinweis: „Meine Tricks muß ich wohl aufgeben, denn an das Taschenspielertalent der frischgebackenen Moskauer Geschäftsleute kommt meins nicht heran!“. Kios Aussage wird bestätigt von einer Meldung des 'Kommersant‘, derzufolge jede fünfte Transaktion an der „Russischen Rohstoffbörse“ über fiktive Waren abgeschlossen wird. Die von der Zeitschrift zu diesem Problem befragten Moskauer Händler meinten übrigens in der Mehrzahl, so etwas läge nun einmal "in der Natur" von Börsen. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang der Hinweis der Tageszeitung 'Komsomolskaja Prawda‘, daß Feste wie dieser Vollmondball zu Zeiten der Prohibition in Kreisen der amerikanischen Mafia in Mode waren. Nur, daß dort wohl wirklich Spirituosenfontänen aufstiegen, man war ja unter sich. In der kalten, klaren Moskauer Mainacht hingegen war der Unterschied zwischen Veranstaltern und zu Unterhaltenden so deutlich wie in diesem Lande in den letzten Jahrzehnten eh und je, als die Phrasen über „unseren“ Glanz und „unsere“ Herrlichkeit die Festumzüge beherrschten und im armseligen Alltag halb geglaubt wurden und halb nicht.
Auftritt Margarita
Am meisten Beifall, vorwiegend von ZuschauerInnen um die zwanzig, erhielt übrigens weit nach Mitternacht das Double von Leonid Breschnjew, der den Leuten wünschte, „daß ihr auch so gut leben mögt wie wir“ und dann ein Glas Wasser verlangte, sowie „auch noch etwas zu trinken dazu“. Eine in eine Strumpfhose und einen durchsichtigen Plastikregenmantel gehüllte „Margarita“, eine unbekannte Schauspielschülerin, hatte sich vordem frierend, aber mit Anmut ihrer Aufgabe als Ballkönigin entledigt. Eine Rockband inszenierte ein wirklich zündendes Bacchanalium, die Protagonisten dekoriert mit gewaltigen primären und sekundären Geschlechtsteilen. Reizend war dabei vor allem der Einfall, die Brüste wie kleine Engelsflügel auf den Rücken geschnallt zu tragen - leider allzu klischeehaft der Text des vorgetragenen Songs, der die ganze muntere Saufidelei aus irgendeinem Grunde mit den ohnehin schwer leidgeprüften Afrikanern in Verbindung brachte. Zum Schluß flatterten auch noch ein paar abgenagte Zehnrubelscheine vom Zeltdach.
Die „Businessmeny“
„NEP(p)“ gab es auch im Restaurant, wo die Gäste, unter ihnen das Oberhaupt der Moskauer Stadt-Exekutive, Jurij Luschkow mit Kind und Kegel, hinter Plastikfaltwänden ab Mitternacht bibberten, bis es gegen zwei Uhr nachts „etwas Warmes“ gab. Da halfen auch Wodka und Cognac nicht, die nun für den Normalbedarf durchaus ausreichend vorhanden waren, nicht allerdings für die Maßstäbe der „Businessmeny“, die die Gelegenheit nutzten, privat nachzubestellen. So hielt man es an unserem Nachbartisch, wo, wie sich herausstellte, Sponsoren der Veranstaltung saßen: Vertreter der Firma „Weiße Datscha“, die nahe der Moskauer Ringautobahn „ökologisch saubere“ Lebensmittel produzieren, wie sie betonten „nur für Weiße“ — ein deutlicher Seitenhieb gegen die sonnenverbrannten kaukasischen Schwarzhändler der Moskauer Wochenmärkte. Diese ergingen sich inzwischen ungestört mit ihren teuren Mädchen im Garten, rockten heftig und gaben ihren Damen Gelegenheit, sich in der dort vertäuten „ersten Heißluft-Montgolfiere Rußlands“ aufzuwärmen, während sie selbst die Wege mit dem dort an Buden zu erwerbenden Champagner besprenkelten, damit der Staub den Damen nicht die Roben beschmutze. Hier geschah es gegen Morgen, daß sich in einem stark angesäuselten Businessman der gesunde antifaschistische Geist regte und er sich mit dem Ausruf: „Habe ich Dich endlich! Auf die Knie, Du Schweinehund!“ erhob und auf das Double Hitlers wälzte, das sich eben noch um seine Widerbelebung verdient gemacht hatte. Dem Führer des deutschen Volkes mußte der Führer des russischen Proletariates, Lenin, zur Hilfe eilen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Eintrittspreise vor der Mauer schon auf fünf Rubel pro Billett gefallen.
Im Restaurant widmeten sich die Gäste inzwischen „ökologisch sauberen“ Milchferkeln aus der Bratröhre, einer Reminiszenz an die Luxusvorstellungen der mittelalterlichen Moskauer Kaufmannsgilde. Der Genuß der Freunde an unserem Tisch an dem weißwabbeligen blutigrotgeränderten Fleisch wurde dadurch nicht erhöht, daß sich das Farbenspiel der Schlachtplatte auf der Bühne unmittelbar vor uns wiederholte, wo eine kräftige junge Frau ihre Haxn in die Luft reckte und mit einer offenbar zu Tode erschrockenen Pythonschlange in der Luft herumwedelte. Das Schweinchen blieb zur heimlichen Vorfreude der Kellner weitgehend unberührt — bis sich plötzlich eine gierige Hand durch die Faltwand schob und eine Stimme zirpte: „Wir sind die unbehausten Poeten Moskaus, Verwandte des Dichters 'Besdomny‘ (zu deutsch: 'unbehaust‘) aus Der Meister und Margarita! Wir wollen Euch gern durch unsere Couplets erfreuen, wenn Ihr uns tränkt oder speist!“ Unverzüglich wanderte das Milchschwein durch die Faltwand, hinter der ein wildes Freudengeheul und gereimter Singsang ertönten. „Was, so schnell?“, wunderte sich der Kellner bei der nächsten Inspektion unserer Tischdecke und brachte uns enttäuscht — nein, kein ganzes zweites Schwein, aber noch ein halbes. Uns wiederum enttäuschten die spät vorbeihuschenden Striptease-Schülerinnen, weniger wegen der Bikinihöschen unter ihren Schürzchen, als vielmehr durch die verständliche Hast und Gänsehaut, mit der sie uns auf jeden Tisch einen Leuchter stellten. Es bleibt der Trost, daß die Moskauer Striptease-Schule offenbar jung und alt zugänglich ist. Was blieb noch und was blieb nicht von diesem Fest, und was hat es uns gelehrt? Der Autorin dieser Zeilen blieb ein wunderschönes Eintrittsbillet aus rotem Kunstleder mit ihrem Foto und dem ihres Privatkaters-Begemot, das sie in Goldschrift nicht zu Unrecht als Mitglied des hochstaplerischen Schriftstellerverbandes MASSOLIT ausweist. Es bleiben Zweifel, ob der uns allen total unbekannte Kater Begemot wirklich männlichen Geschlechts gewesen ist, und das Bewußtsein, halb Schwein gehabt zu haben.
Fortsetzung nächste Seite
Fortsetzung
Spiegel und Leuchter verschwunden
Nicht verblieben waren im Restaurant am Morgen danach auch nur ein einziger der goldgerahmten Wandspiegel oder einer der Leuchter von 25 Tischen. Die wohltätigen Mittel
für den Bulgakow-Fond müssen wohl anderswo gesucht werden. Gelernt haben wir, daß es in Rußland noch Diven von buchstäblich beträchtlichen Ausmaßen gibt, die ein frierendes Restaurant in Raserei zu versetzen verstehen und mit Grazie eine Rose entgegenzunehmen wissen, wie die Romanzensängerin Nadjeschda Babkina. Daß Oskar Matzeraths Wanderschaustellertruppe in diesem Lande ihre würdigen Lilliputanernachfahren gefunden hat. Daß der „Klub der Zwillinge historischer Persönlichkeiten“ hier unter Nachwuchs- und Existenzschwierigkeiten leidet. Und daß es in Moskau — tatsächlich!— ein sehr gutes „Erotisches Theater“ gibt. Vielleicht genaueres, bei Gelegenheit. Noch mehr zu schätzen gelernt haben wir alle in jener Nacht den bleibenden Wert des Romans Der Meister und Margarita, wo der Satansgefährte Korowjow Margarita zu Beginn des Ballkapitels erklärt: „Nichts ist garstiger, als wenn der erste Gast nach seiner Ankunft kümmerlich herumsteht, nicht weiß, wohin, und zudem auch noch von seiner gesetzlich angetrauten Megäre im Flüsterton dafür heruntergeputzt wird, daß sie früher als die anderen von zuhause abgefahren sind. Solche Bälle gehören auf den Abfallhaufen, Königin!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen