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Serbien: der Paria im Herzen Europas

■ Die nationale Elite Serbiens begreift allmählich, daß sie mit ihrer Unterstützung für Milosevic das Land in die Isolation geführt hat. Einig sind sie sich jedoch mit den Vertretern der ...

Serbien: der Paria im Herzen Europas Die nationale Elite Serbiens begreift allmählich, daß sie mit ihrer Unterstützung für Milosevic das Land in die Isolation geführt hat. Einig sind sie sich jedoch mit den Vertretern der demokratischen Opposition darin, daß die UNO-Sanktionen nicht gerechtfertigt sind.

Manche sind voller Ahnungen und Ängste, manche analysieren und diskutieren, manche verdrängen einfach alles und gehen ihren Beschäftigungen nach. In der Innenstadt von Belgrad sind die Cafés zu jeder Tageszeit besetzt, Hunderttausende schlendern die Kneza Mihaila entlang, betrachten die karger werdenden Auslagen der Geschäfte und Boutiquen. Erstaunlich, wie es vielen Frauen und Männern gelingt, angesichts des Krieges in Bosnien-Herzegowina, angesichts der galoppierenden Inflation und des gesunkenen Lebensstandards die Fassade bürgerlicher Normalität aufrechtzuerhalten. Lediglich die deutlich an Zahl zunehmenden Bettler und Kleinsthändler, die an den Straßenecken die Passanten bedrängen, bedeuten dem oberflächlichen Betrachter die vor sich gehende Veränderung: Tausende von Flüchtlingen aus Bosnien sind in die Hauptstadt gekommen. Neben den 313.000 vom Roten Kreuz registrierten sind noch einmal 150.000 bei ihren Verwandten in Serbien untergeschlüpft.

Doch die Gespräche, die dieser Tage in Belgrad geführt werden, kommen bald auf den Punkt: Bedeuten die Sanktionen der UNO gegenüber Serbien den Beginn einer Eskalation, der den Krieg auch nach Belgrad trägt? Dienen die Sanktionen wirklich dem Ziel, das Regime von Slobodan Milosevic zu stürzen und damit den Weg zu einem Frieden zu öffnen? Und immer wieder kommt die Frage auf, warum die Serben plötzlich isoliert sind, ohne Freunde in der Welt dastehen als die Alleinschuldigen am Krieg.

„Die Serben sind die Parias Europas geworden“, sagt Branca P., eine in der Demokratischen Opposition engagierte Frau. Und sie gibt zu, schwankend geworden zu sein. Einerseits wünsche sie sich nichts sehnlicher, als endlich den Sturz des Milosevic-Regimes zu erreichen. Andererseits jedoch sei sie schmerzlich davon berührt, als Serbin pauschal für alle Verbrechen, die in dem Krieg in Bosnien-Herzegowina und in Kroatien begangen werden, geradestehen zu müssen. „Es ist diese Undifferenziertheit, die mich stört. Alle Welt übersieht, daß im Denken und Handeln der kroatischen und muslimanischen Milizen ähnliche Strukturen zu finden sind wie in dem der serbischen. Die durch die Dynamik des Krieges hervortretende Mentalität der Männer der Grenzbevölkerung wird zum Gradmesser der Beurteilung der serbischen Gesellschaft.“

Welche Resultate gerade dieser Zwiespalt in den unterschiedlichen Gruppen der serbischen Bevölkerung erzeugt, wird sich erst in den nächsten Tagen genauer abschätzen lassen. Noch ist nicht ausgemacht, ob es dem Regime gelingt, gerade angesichts der Sanktionen und der Verurteilung der Serben durch die Weltöffentlichkeit den Zusammenhalt der Gesellschaft zu erreichen. Manches deutet darauf hin — nicht nur, wenn Jugendliche begeistert vom Ausheben von Flakstellungen in und rund um Belgrad berichten, sondern auch, wenn eine Ladenbesitzerin arglos den Slogan des serbischen Rechtsradikalen Seselj wiederholt, die ausländischen Truppen sollten nur kommen und sich blutige Köpfe holen. Ein Gradmesser wird auch die Beteiligung an den Wahlen sein, die vor der Entscheidung der UNO nach Umfragen unter 50 Prozent lag. Zwar sind nach dem Boykottaufruf der Oppositionsparteien die Wahlkommissionen ausschließlich von Vertretern der Regimeparteien besetzt und damit den Möglichkeiten der Stimmenmanipulation Tür und Tor geöffnet. Doch angesichts des Erbes der Entmündigung der Menschen nicht nur in der jüngsten Geschichte des Landes könnten die Ergebnisse dennoch dazu dienen, die Autorität der herrschenden Führung zu verfestigen.

Dem stehen allerdings zwei bemerkenswerte Vorgänge in der serbischen Elite gegenüber. Schon in der vorletzten Woche entzogen über 30 Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, über 300 Professoren der Universitäten, dazu eine große Anzahl von Rechtsanwälten, Ärzten und anderen akademischen Berufen dem Regime ihre Unterstützung. Und da es sich bei diesen Menschen um eine nationale Elite handelt, die 1986 maßgeblich an der Ausarbeitung eines Memorandums zur Lage der Nation beteiligt war — das Memorandum ermöglichte Slobodan Milosevic den Aufstieg zur Macht —, ist diese Stellungnahme durchaus hoch zu bewerten. Hinzu kommt noch die ebenfalls bedeutsame Erklärung der Serbischen Orthodoxen Kirche vom Donnerstag, die sich in harschen Worten von den Machthabern und von den Wahlen distanziert. Die nationale Elite scheint langsam zu begreifen, daß die Politik der „kommunistischen“ Führung unter Milosevic — den sie in den letzten Jahren unterstützt hatte — das Land in die Isolation und die Katastrophe geführt hat.

„Für uns ist es nicht leicht, in einem Bündnis mit diesen Gruppierungen gegen Milosevic aufzutreten, weil es diesen Kräften vor allem um die Nation geht, nicht jedoch um die Demokratie“, formuliert der bekannte demokratische Intellektuelle Neboja Popov die eigenen Bedenken. Doch angesichts der dramatischen Situation sei das Zweckbündnis die einzige Möglichkeit, den Sturz des Regimes zu verwirklichen. Als gestern nachmittag Zehntausende von Demonstranten in den Straßen Belgrads gegen die Politik Milosevic' und für die Beendigung des Krieges protestierten, war der Hauptverantwortliche für die Eskalation auf dem Balkan ausgemacht.

Aber noch in einem anderen Punkt sind sich die Oppositionellen einig geworden: Von Vertretern der nationalen Elite über die Kirche bis hin zu den Intellektuellen der demokratischen Opposition werden die Sanktionen als nicht gerechtfertigt angesehen. „Sie werden das Volk treffen und nicht das Regime.“ Außerdem seien sie kaum wirkungsvoll. Denn „die eigene Ölförderung in der Wojwodina reiche für die Kriegsmachine“. Selbst Ibrahim Rugova, der vor einer Woche in einer von der serbischen Regierung als „illegal“ eingestuften Wahl zum Präsidenten des Kosovo gekürt worden war, forderte, wenigstens Kosovo von den Sanktionen auszunehmen.

Angesichts dieser Übereinstimmung ist die Regimepresse nicht ungeschickterweise dazu übergegangen, die Sanktionen als „ungerecht und unnötig“ zu brandmarken. Ein neuer Genozid an den Serben stünde bevor, Serbien solle zerstückelt werden. Damit soll die Loyalität zum Regime neu erweckt werden, alle Serben sollen nun zusammenstehen. Aller Welt wird nun bewiesen, daß die andere Seite zum Angriff übergeht. Wie nervös Milosevic allerdings geworden ist, zeigt seine Forderung vom Samstag, amerikanische und russische Truppen zur Befriedung ins Land zu holen. Ist das ein neuer politischer Taschenspielertrick? „Es ist auch das Eingeständnis, daß die serbischen Truppen in Bosnien von Belgrad aus nicht einmal mehr indirekt zu kontrollieren sind.“ Erich Rathfelder, Belgrad

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