VILLAGE VOICE: Kraftwerk richtig verstanden
■ Neue Platten auf dem Tresorlabel: 3mb feat. Eddy Flashin Fowlkes und X102: X 102 discovers the Rings of Saturn
Die Gegensätze innerhalb der House-Nation reichen tief bis an die Wurzeln zurück: deutsche Härte und schwarzer Soul; Berliner Krankheit und Spirit-Jazz; Walkürenritt und Discostomp. DJs aus Berlin und Detroit treffen sich jedoch seit geraumer Zeit im Tresor, Berlin-Mitte, und arbeiten zusammen — inzwischen auch auf Platte.
Anfangs waren die Detroiter Star-DJs von der dröhnenden Wucht der Berliner »Wall of Sound« begeistert, so wie auch das fehlende Tempo-Limit auf Deutschlands Autobahnen den amerikanischen Langsamfahrern gut gefällt. Trotzdem bleiben sie musikalisch der Liebe zu Intensität als Wechselspiel von Bruch und Beschleunigung treu, im Unterschied zum Berliner Gebretter.
Eddy Flashin Fowlkes fügt auf der Detroit- Produktion seiner Doppel-Maxi die Grundlagen der Tanzmusik mit klassischer deutscher Minimalelektronik zusammen. Die Synthese von Melodie und Rhythmus funktioniert bis ins kleinste Detail. Der »Trans Europa Express« von Kraftwerk ist bis nach Amerika gekommen und dort auch verstanden worden. Denn die Kontraste zwischen puren Stakkatobeats, fließender Metrik und freier Perkussion ereignen sich urplötzlich — ohne an Linearität einzubüßen; die Tonfolgen springen lose geordnet auf und ab.
Um so abrupter brechen dagegen Klangfarben und Frequenzen miteinander und formen sich neu. Fowlkes dreht schnell und gerne an den verschiedenen Pitches der Keybordtastatur.
Im Beatgefüge von Es-29 kann man sogar verschleppte Anglizismen aus frühen Human League-Songs entdecken, die das Uptempo der Bässe kennzeichnet. 420-Low zieht dann alle Register einer zugkräftigen Techno-Nummer, und auch in (R-t) betonen die Breaks eine ekstatisch anschwellende Bienenschwarmgeräuschkulisse. Einzig die Berliner Session mit Moritz von Oswald und Thomas Fehlmann auf der zweiten Maxi wirkt als Improvisation zu langatmig. Das hart, aber lässig angeschlagene House-Piano bei Famous Last Words macht allerdings den Sprung in die Charts möglich.
Für die kantische Analogie von Gehirn und Gestirn sind X 102 der beste Beweis. Ihre Ode an das Mysterium der Saturnringe hat kaum noch einen Bezug zu den Trancemarathons der aufgeputschten TänzerInnen. Hier wird wissenschaftlich gearbeitet und künstlerisch gedacht. Hätte in den russischen Salons ein PC anstelle des Flügels gestanden, wäre der musikalische Ausdruck eines Rachmaninow ähnlich verlaufen. Manchmal flirrt es in den Stücken von X 102 auch wie bei Strawinsky, dann wieder fügt sich alles in den monoton perlenden Erzählfluß eines schläfrigen Rimsky-Korsakov.
X 102 überbieten darin selbst Kraftwerk, steigen vom Zug direkt in den Kopf um und machen dort eine phantastische Reise. Kurz nach dem Intro ertönt in Phoebe ein Trommelschlag, der ohne Ziel und Richtung einfach immer wieder ins Nichts fällt. An diese Art von Ortlosigkeit der Instrumente muß man sich während der folgenden 45 Minuten gewöhnen, so wie auch an obskure Synthisounds, deren Künstlichkeit weniger dem gewöhnlichen Hang zum Naturimitat entspringt als der Freude am Programmieren.
X 102 lassen es gehörig rauschen und fiepen, unterbrechen völlig willkürlich die Datenketten, drehen den Strom, die Geschwindigkeit herunter, »eiern« elliptisch. Ihrem musikalischen Kosmos ist das meiste Menschliche fremd. Dennoch benutzen sie gängige Tonalitäten nach den Regeln des Quintenzirkels und können die akustischen Signale einer Großrechenanlage von der melancholischen Melodie einer Mundharmonika sehr wohl unterscheinden — auch wenn bei X 102 der Computer in allen Belangen dem Naturklang überlegen ist.
Die unentwegten Kurzwellencodes auf C- Ring und Tethys realisieren, was das anonyme DJ-Duo im Begleittext auf dem Plattencover vorgibt: Die Idee ihrer Musik entspringt »dem Zustand einer kreisenden Bewegung und dem Kreisen des Lebens selbst«. Nicht mehr bloß raum- sondern auch zeitlos bewegt sich Techno teilchenbeschleunigend fort. Melodien oder gar häßliche Orchestermotive wie in der Charthymne Das Boot und dem Nachfolger Enterprise blieben auf der Erde zurück. »Positive Futurism«: Aus dem All betrachtet, liegen Berlin und Detroit ziemlich nahe beieinander. Harald Fricke
3mb feat. Eddy Flashin Fowlkes
X 102 discovers the Rings of Saturn
(beide Tresor)
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