: Die Form, der Körper
Einige Beobachtungen vom Berliner Theatertreffen 1992, gesammelt ■ Von Sabine Seifert
Meine Wahl amerikanischen Milieus entspringt nicht, wie oft gemeint wurde, einem Hang zur Romantik. Ich hätte ebensogut Berlin wählen können, aber das Publikum hätte dann nicht gesagt: ,Der Mensch handelt eigenartig, auffällig, bemerkenswert‘, sondern nur: ,ein Berliner, der so handelt, ist eine Ausnahmeerscheinung.‘
Im Dickicht der Städte ist Brechts zweites Stück. 1971 hat Ruth Berghaus sein frühes Stück bereits am Berliner Ensemble, Brechts eigenem Theater, inszeniert. „Damals haben wir versucht, den Zerfall der Großfamilie zu inszenieren“, sagt die Regisseurin bei einer Publikumsdiskussion. In der vergangenen Spielzeit hat sie das schwierige Stück am Hamburger Thalia Theater neu und diesmal „anders gelesen“. „Aber war denn die DDR nicht eine Art Großfamilie für Sie?“ will jemand in der spannungsgeladenen Diskussion von der einstigen Starregisseurin des realsozialistischen Deutschlands wissen. „Daran habe ich nie gedacht“, lautet die knappe Antwort.
Ruth Berghaus ist spätestens seit Matthias Matusseks 'Spiegel‘-Auslassungen über ihre Person und die den Autor an Exerzierstil gemahnenden Theaterchoreographien eine angefeindete Regisseurin. Und mit ihrer kühl-manierierten Hamburger Inszenierung vom Dickicht der Städte macht sie es dem Publikum nicht gerade einfacher, einen Zugang zu ihrer Arbeit zu finden. Formal interessant ist die allemal. „Form ist doch auch Inhalt“, belehrt die Regisseurin das Publikum. Pause. „Ich kann das Wort Formalismus nicht mehr hören“, fährt sie aus ihrem verletzten Schweigen auf. „Stilisierung ist etwas ganz anderes als Formalisierung.“ Berghaus ist nicht die einzige beim Theatertreffen, die ihren ausgeprägten Stilwillen und Formalismus verteidigen muß. Sprache wird bei ihr gedehnt, zergliedert und traktiert; die Schauspieler bewegen sich ebenso überdeutlich und federn die zerhackte Sprache durch stilisierte, fast tänzerische Handbewegungen ab, so als wollten sie die Worte nachklingen lassen und zugleich die leere Geste betonen. Uniformität und automatenhafte Bewegungen bilden ein irreales Korsett, das auch die kindlichen Ausbrüche zwischendurch bändigt und um so unheimlicher macht. Erich Wonder hat dazu ein sehr schönes Bühnenbild entworfen; große Tücher, mit Landschaften und futuristischen Hochhäusern bemalt, begrenzen den Raum, der fast Kathedralencharakter hat. Dieser Illusionismus steht in seltsamem Kontrast zum Spiel; er erzeugt Tiefe, wo nur glatte Fläche gezeigt wird. Glatte Oberfläche, die zum Angriff reizt.
Ruth Berghaus' Inszenierung wurde als eine von zwölf „bemerkenswerten“ Inszenierungen zum Berliner Theaterteffen eingeladen. Die Hitparade deutscher Stadttheater: Jährlich, im schönen und festivalträchtigen Mai, passieren die Aufführungen der Saison Revue. Ein hochsubventionierter Gastspielbetrieb, veranstaltet von der Berliner Festspiel GmbH; die zwölf (in diesem Jahr dreizehn) Inszenierungen werden von einer Jury von neun Kritikern ausgewählt, die möglichst verschiedene Regionen überschauen. Ein bemerkenswert demokratisches Verfahren, das seine festen Spielregeln hat; allerdings liegt der Zwang zur Kompromißbildung auf der Hand. Einzige Alternative wäre, das Festival einer Autorität und ihrem Geschmack anzuvertrauen.
Nur einer kann das Theatertreffen nicht leiden, Gerhard Stadelmeier, Theaterkritiker der 'FAZ‘. Aber seine Zeitung sitzt auch nicht in Berlin, und er nicht in der Jury. „Berlin braucht kein Theatertreffen mehr“, hatte er einen Kommentar überschrieben. Das erregte die Gemüter. Berlin müsse nun aus eigenen Kräften eine Theaterstadt darstellen, meint der Frankfurter Kritiker; so ein Festival, das in den Zeiten des Kalten Krieges den Goodwill der übrigen Bundesrepublik dokumentierte und dafür sorgte, daß die Berliner den Anschluß an das theatralische Geschehen nicht versäumten, sei politisch überholt und kulturell in dem Moment ein Luxus, wo Berlin seine Kräfte und Gelder auf die eigenen Häuser konzentrieren muß.
Nun wollen wir nicht in Abrede stellen, daß auch Berliner Vergnügen daran haben könnten, auswärtige Inszenierungen zu sehen. Daß sich dennoch an der konservativen Politik des Theatertreffens etwas ändern muß, haben selbst die Macher dieses Jahres eingesehen. Deshalb nominierten sie, wie Jurymitglied C. Bernd Sucher meinte, in diesem Jahr statt der zweitklassigen Inszenierungen der Altmeister lieber interessante Inszenierungen junger Regisseure mit allen ihren Schwächen (vier von dreizehn: ein mildes Risiko). Deshalb luden sie mit Andrej Worons Kreaturentheater zum ersten Mal (!) ein freies Theater ein, deshalb gaben sie einem anderen Berliner freien Theater, den „Stadthirschen“, Gelegenheit und Mittel, das Stück eines jungen und zugleich im sogenannten Stückemarkt vorgestellten Autors, Oliver Bukowski, uraufzuführen.
Tendenzen, nein, wohl aber Namen, von denen man wieder hören wird. Regisseure (auch unter den jungen waren keine Frauen), die tatsächlich noch unter oder gerade dreißig geworden sind. Wie Christian Stückl, der an den Münchner Kammerspielen die Chance hatte, Werner Schwabs grotesk-virtuoses Sprachgepupe als erster auf die Bühne zu bringen. Stückl kommt aus Oberammergau, hat dort anderthalb Jahre Regie bei den Passionsspielen geführt und eine neue (Ver)fassung erreicht. (Das ungenierte Interesse dieser preußischen Protestanten aus Berlin an seiner Herkunft genierte den jungen Mann ein wenig.) Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos ist seine erste Regiearbeit auf einer nonkonfessionellen Bühne. Das ist gut so, denn es hagelt nur so Unanständigkeiten, die Stückl sozusagen frisch von der Leber weg spielen läßt.
Sehr viel asketischer ist die Handschrift Matthias Hartmanns aus Hannover, und sehr viel unzugänglicher die des Kollegen Andreas Kriegenburg von der Ostberliner Volksbühne. Kriegenburgs Woyzeck war die einzige Produktion einer ostdeutschen Bühne, die von der Jury als qualitativ anspruchsvoll eingestuft wurde. Auch hier die Schematisierung der Bewegungsabläufe; Menschen wie Marionetten, eingeschnürt in Korsetts oder Zwangsjacken, als wären sie allesamt einer Anstalt entlaufen. Sie sprechen nicht, sie zirpen, singen, zischen, gurgeln die Worte. Woyzeck (Torsten Ranft wurde am Ende des Theatertreffens für seine Darstellung der Alfred- Kerr-Darstellerpreis verliehen) ist ein Geduckter und ein Duckmäuser, ein Prügelknabe und selber ein Prügelstock; Kriegenburg thematisiert das neofaschistische Potential, das unter der deformierten Bürgerlichkeit zum Vorschein kommt. Das Seelenlose seiner Figuren ist, ganz anders als bei den ungreifbaren Gestalten der Berghaus, veräußertes, versteinertes Entsetzen, abgeschnürtes Leben, das am Ende explodiert. Martialisch tötet Woyzeck seine Marie.
Formstreng und formschön gibt sich dagegen Matthias Hartmanns Emilia Galotti, die der 29jährige im Ballhaus Hannover inszeniert hat. „Ich möchte auffordern, sich zu konzentrieren, Nähe auszuhalten“, meint der eloquente Jungregisseur, der die Bilderflut seiner Kollegen mit den choreographierten Wortgefechten der Lessingschen Sprache attackiert. Selbst das Bühnenbild (die Welt als eine Darts-Scheibe) hat er selbst entworfen. „Nicht weil ich mich für einen guten Bühnenbildner halte, sondern weil ich noch keinen gefunden habe, der diese Diskussion über die Bilderinflation mit mir führt“, erzählt der selbstbewußte Hartmann im Spiegelzelt bei einer Publikumsdiskussion. „Wir brauchen diese Bilder nicht mehr, die bloß eine bestimmte Inhaltslosigkeit abfedern. Für mich ist die Emilia der modernste Text, den ich in letzter Zeit gefunden habe, weil er die Schuldfrage so brillant diskutiert. Lessing macht diskursives Theater, das öffnet und nicht verengt. Eine junge Frau verweigert die Schuld, die Verführung. Man kann doch heutzutage gar nicht mehr unschuldig sein.“
Lessing bietet zwei Konzepte an; in Gestalt von Emilia, die sich von ihrem Vater das Leben nehmen läßt, weil sie der Verführungskunst und Macht des Prinzen nicht widerstehen würde, und der verschmähten Orsina, die rachsüchtig Emilias Vater das Messer zuspielt. Schuldverweigerung und Schuldigmachung. So sehr Hartmann auf die asketische Form setzt (was keineswegs formalistisch ist), versucht er doch das schauspielerische Element nicht zu bändigen oder zu entpersönlichen, sondern zu forcieren. „Ich setze ganz auf den Pathos“, meint der Regisseur. Und so wird das strenge Spiel plötzlich aufgebrochen von einer „Vaterseele, die sich in den Scheinwerfer stellt“. Die Schauspieler verlangen ihr Recht, der Regisseur beugt sich der Konvention und kehrt damit zu einer Art Schauspielertheater zurück, wie es das vor zwanzig, dreißig Jahren gegeben hat — bevor das Theatertreffen das Regietheater entdeckte.
„Ich bin am Theatertreffen beteiligt, aber ich frag' mich trotzdem: Was tu ich hier?“ Dimiter Gotscheff, der für thematische Bündelung plädiert, wirkt mit seinen tief in die Stirn gekämmten Haaren wie eine Figur aus einem Kaurismäki-Film. Der Bulgare arbeitet — mit Umwegen über die DDR — inzwischen im Westen; aus Köln brachte er seine wundersam-wunderbare Inszenierung von Strindbergs Fräulein Julie mit. Kein bißchen süßliche Mittsommernachtserotik; harte Knochenarbeit: der Geschlechterkampf, die Schauspielerei. Auch hier bestimmt die Form, der Körper den Inhalt.
Die Bühne (Jens Kilian) ist denkbar einfach; Holzfußboden und eine niedrig gezogene, matt weiß schimmernde Decke (Bühne: Jens Kilian), die die aufgeladene Enge der Verhältnisse fühlbar machen. Hingebungsvoll wienern der Diener Jean (Bernd Grawert) und die Hausangestellte Kristin (Monika Burckhardt) den Fußboden, als sei dies bereits ein kompensatorischer Akt für die vergebliche Liebesmüh. Das Fräulein Julie (Almut Zilcher) kommt mit weißem traurigen Clownsgesicht, spielt die Herrin, erniedrigt Jean, statt ihn zu umgarnen, der — hopp, hopp — ihr Pferdchen spielen muß. Jean und Julie jagen einander wie die Tiere, die irgendwann matt und erfolglos darniedersinken. Aus der Erschöpfung heraus entsteht ein wunderbarer Moment der Zartheit und der — verbalen — Verständigung; jetzt ist die Vereinigung der Körper denkbar.
Dimiter Gotscheff gelingt es — auch später, wenn sich das Verhältnis zwischen beiden umkehrt und aus dem Klassen- mehr ein Geschlechterkampf und aus dem herrschaftlichen ein gefallenes Fräulein wird —, die wirren Gefühlslagen seiner Protagonisten wie mit dem Rasiermesser herauszukitzeln: In die Enge, ins Extrem getrieben dreht sich Julie am Ende mit einem solchen in der Hand im Kreis, ein Todestaumel — während Jean und Kristin den Fußboden schrubben. Saubere Arbeit.
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