: »Zwischenlagerung« einer Leiche
■ Maueropfer heimlich im Krankenhaus deponiert
Berlin. Unter strikter Geheimhaltung wurde die Leiche des an der Mauer tödlich getroffenen 21jährigen Silvio Proksch im Volkspolizeikrankenhaus deponiert. Das stellte sich beim Prozeß gegen den wegen Totschlags angeklagten 32jährigen DDR-Grenzsoldaten Steffen Sch. heraus.
Der Pathologe Dr. Hans-Jürgen N. sagte aus, am ersten Weihnachtsfeiertag 1983 habe man ihm im Notoperationssaal des Volkspolizeikrankenhauses die Leiche eines unbekleideten, gesäuberten jungen Mannes gezeigt. An einem Oberschenkel habe er eine Wunde entdeckt, die von einer Schußverletzung herrühren könnte. Unbekannte Zivilisten hätten ihm lediglich mitgeteilt, die Leiche würde »zwischengelagert« und am nächsten Tag den Gerichtsmedizinern der Volksarmee in Bad Saarow überführt. Der Mediziner hatte einen bereits ausgefüllten Totenschein vorgefunden. Wegen der Umstände der ungewöhnlichen Geheimhaltung hatte der Zeuge damals vermutet, es hätte sich bei dem Toten um einen Mann aus den Reihen des MfS gehandelt.
Die Zeitspanne von 45 Minuten zwischen der Schußverletzung eines Flüchtlings und dem Eintreffen eines Sanitätskrankenwagens der ehemaligen DDR-Grenztruppen war normal. Mit dieser Zeugenaussage widersprach der 36jährige Ex- Grenztruppenhauptmann Hans Ö. Angaben, wonach der Abtransport des schwerverletzten Silvio Proksch außergewöhnlich verzögert worden und dadurch dessen Tot eingetreten wäre.
Der frühere Berufsoffizier begründete die dreiviertelstündige Anfahrt mit der Entfernung zwischen dem Standort des medizinischen Personals beim Grenzregiment 33 im südlichen Treptow und dem Tatort an der Mauer im nördlichen Pankow. Hans Ö. war am ersten Weihnachtsfeiertag 1983 als Diensthabender im Stab eingesetzt, hatte die Meldung über den Fluchtversuch erhalten und die strikt vorgeschriebenen Maßnahmen einschließlich der Alarmierung des Krankenwagens eingeleitet.
Der Ex-Hauptmann differenzierte auf Befragen das Feindbild in den ehemaligen DDR-Grenztruppen. Im Offizierskorps hatte die Anwendung der Schußwaffe als notwendiges letztes Mittel zur Sicherung der Staatsgrenze gegolten. Als zunehmenden Trend bei den Mannschaften nannte der Zeuge die Hoffnung, die Schußwaffe nicht anwenden zu müssen. Als zeitweiliger Kompaniechef des Angeklagten kannte der Offizier auch Gerüchte unter den Soldaten, wonach bei gelungenen Fluchtversuchen die im Grenzabschnitt eingesetzten Posten hart bestraft würden.
In dem vierten Mauerschützenprozeß ist Steffen Sch. angeklagt, Silvio Proksch am 25. Dezember 1983 durch einen Schuß aus einer Maschinenpistole an der Mauer in Berlin-Pankow getötet zu haben. Der Tod von Proksch war den Angehörigen von DDR-Behörden erst nach der Wende, im August 1990, offiziell mitgeteilt worden. Die Staatssicherheit behauptete nach einer Vermißtenanzeige, am 25. Dezember 1983 hätte es weder einen Toten an der Mauer noch einen Fluchtversuch gegeben. Die Leiche des beim Transport in ein Krankenhaus gestorbenen Silvio Proksch ist unauffindbar. adn
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