GEWALT GEGEN SCHWULE IN MÜNCHEN: DIE STADT MACHT AUF STUR

Explosionsartiger Anstieg

Berlin (taz) — Vergangener Samstag, München-Mittersendling. Es ist früher Abend. Franz (44) und sein Freund Reinhard (48) steuern ihre Wohnung in der Johann-Clanze- Straße an. Im gleichen Haus wohnt Werner S. (55). Er kann Schwule nicht ausstehen. Schon vom Balkon aus beschimpft er die beiden auf unflätigste Weise. Und die sind die ständigen Beleidigungen nunmehr leid, nehmen sich vor, den Krakeeler endlich zur Rede zu stellen. Sie läuten an seiner Wohnungstür. Der Mann öffnet und sticht ohne Vorwarnung mit einem Küchenmesser auf sie ein. Franz wird mit der 16 Zentimeter langen Klinge in die Brust getroffen. Er überlebt den brutalen Angriff nicht. Reinhard erhält ebenfalls einen Stich in die Brust, einen weiteren in den Oberarm. Erst nach einer Notoperation befindet er sich nun außer Lebensgefahr. Der Mörder wird festgenommen. Die Mordkommission ermittelt — „wegen Verdachts auf Totschlag“.

Überfälle auf homosexuelle Männer, Bedrohungen, Beschimpfungen, Raubüberfälle, schwere Körperverletzung — die bayrische Metropole festigt ihren Ruf, die Hauptstadt der Schwulenfeinde zu sein („Lieber ein kalter Krieger als ein warmer Bruder“ FJS/Gleichstellung homosexueller Paare? „Da können wir ja gleich über Teufelsanbetung diskutieren“, bayr. Innenminister Stoiber).

Das Schwule Kommunikations- und Kulturzentrum e.V. (Schwukk) spricht von einem „explosionsartigen Anstieg bei Überfällen auf schwule Männer“ in München. Obwohl das Schwukk praktisch keine Öffentlichkeitsarbeit betreiben könne, seien innerhalb eines einzigen Monats 21 Meldungen über Gewalt gegen Schwule eingegangen: Folgen dieser Angriffe sind kaputte Brillen, schwere Prellungen, Platz- und Schürfwunden, ein Milzriß; bei einem Opfer mußte die Milz gar entfernt werden.

In den meisten Fällen, davon ist auszugehen, erstatten die Opfer nicht mal Anzeige. Kein Wunder: sie machen oft genug die Erfahrung, daß Täter nur halbherzig gesucht und kaum bestraft werden. In zwei Fällen, so das Schwukk, habe die Münchner Polizei selbst von einer Anzeige abgeraten. Sie bringe erfahrungsgemäß nichts, und die Täter seien schwer zu fassen.

SPD, FDP und Grüne haben daher einen gemeinsamen Antrag im Münchner Stadtrat eingereicht. München, so die Antragssteller, habe gegenüber vergleichbaren Großstädten ein enormes Nachholbedürfnis. So erhalten die Selbsthilfegruppen bisher keinerlei Unterstützung von der Stadt. Zum Vergleich: in Berlin wird die Schwulenarbeit mit jährlich zwei Millionen Mark (ca. 20 Stellen), in Hamburg mit 1,3 Millionen (14 Stellen) unterstützt. Die bayrische Hauptstadt hat dagegen kürzlich eine halbe ABM- Stelle eingerichtet. Nur außerhalb Bayerns sind alle vergleichbaren schwulen Vereine als gemeinnützig anerkannt. Der billige Trick: „München verweist auf den Freistaat und der wiederum auf die Stadt, wenn es um Unterstützung geht“, sagt Manfred Edinger vom Schwukk. Das von dem Verein durchgeführte Projekt „Gewalt gegen Schwule“, dessen Ziel die Untersuchung, Aufklärung und der schnellstmögliche Abbau der Angriffe ist, soll durch den Antrag der drei Parteien endlich die dringend notwendige Unterstützung erhalten. Außerdem sieht er vor, für Stricher Notschlafstellen mit psychosozialer Betreuung einzurichten. Kaum zu glauben, daß es das in einer Stadt von der Größe und Bedeutung Münchens noch nicht gibt. Jeder weiß schließlich, wie gefährlich es für einen Stricher werden kann, wenn er gezwungen ist, bei seinen Freiern zu übernachten.

Um die Öffentlichkeit, insbesondere die bayrische Staatsregierung, die Stadt München und die Münchner Polizei auf dieses lebensbedrohliche Klima antihomosexueller Gewalt aufmerksam zu machen und dringend nötige Konsequenzen zu fordern, rufen unter anderem das Schwukk e.V., die Münchner Aids- Hilfe e.V. und die Rosa Liste München e.V. zu einer Demonstration am Samstag, den 13.6. auf. Die Auftaktkundgebung beginnt um 11 Uhr am Stachus, von dort geht's durch die Innenstadt zum Sendlinger Torplatz, wo um 14 Uhr die Abschlußkundgebung stattfinden soll. (Gewalttelefon München: 2603058) Philippe André